Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
Täter festnehmen, einen wahrscheinlich harmlos wirkenden Mann, eventuell einen Familienvater. Dann würde sie ihm gegenüberstehen und ihm in die Augen sehen, so, wie sie es eben bei Klaus Quandt getan hatte. Aber würde sie darin etwas Unmenschliches sehen? Oder doch nur wieder das Maximum menschlicher Grausamkeit, nämlich die Fähigkeit, trotzdem unschuldig zu wirken?
Nele trat in den frischen Wind hinaus und schob die Gedanken beiseite. Das war nichts, womit sie sich jetzt beschäftigen durfte.
Anou kam auf sie zu. »Schlimm, oder?«
Nele nickte. »Komm, wir gehen mal ein Stück.«
Seitdem Nele eingetroffen war, hatten sie noch nicht unter vier Augen miteinander sprechen können. Sie verließen den Innenhof, der mittels Flatterband in Planquadrate eingeteilt worden war und von den Technikern akribisch nach Spuren abgesucht wurde. Auf der Zufahrt parkten etliche Fahrzeuge, dorthin konnten sie nicht, also gingen sie zwischen den Mastställen hindurch aufs offene Feld. Dort blies ihnen ein scharfer Wind ins Gesicht.
Nele schlug den Kragen hoch und steckte die Hände in die Taschen ihrer Jacke. Eine Bewegung bei den Windrädern, die drei- bis vierhundert Meter entfernt standen, erregte ihre Aufmerksamkeit. Wirklich gut erkennen konnte sie es nicht, meinte aber, dass neben dem mächtigen Turmfuß eine Person stand. Hatte die Presse etwa schon Wind von dem Leichenfund bekommen?
»Ist schon gut«, riss Anou sie aus ihren Gedanken. »Ich weiß, es war ein Fehler.«
Nele drehte sich zu ihr um. »Weißt du, was mich am meisten an deinen Alleingängen stört?«
Anou antwortete nicht. Sie scharrte mit der Schuhspitze auf der festgefrorenen Ackerkrume herum.
»Wie einfach es dir fällt, unsere Beziehung mit Füßen zu treten.«
Anous Kopf zuckte hoch. »Hey, das tue ich doch gar nicht.«
»Nein? Dann denk bitte mal darüber nach, wie das auf mich wirkt.«
Damit ließ sie ihre Freundin stehen und ging zurück zu den Ställen. Überdeutlich, fast brennend spürte sie Anous Blicke in ihrem Nacken. Es fiel ihr schwer, einfach so wegzugehen, weil sie noch viel mehr sagen wollte, aber sie befolgte damit einen Ratschlag von Dr. Sternberg.
Ihre Partnerin wird nicht auf Sie hören, solange sie den Eindruck hat, dass Sie sie schützen wollen. Machen Sie es persönlich. Lassen Sie sie wissen, wie tief ihr Verhalten Sie verletzt. Die Konsequenzen für sich selbst sind Frau Rossberg gleichgültig, also müssen Sie ihr vor Augen führen, dass ihr Handeln auch für andere Menschen Konsequenzen hat.
Tja, vielleicht würde es helfen. Zumindest war es einen Versuch wert.
Eckert Glanz kam Nele entgegen. Sie arbeitete seit fünf Jahren mit dem gedrungenen, leicht übergewichtigen Mann zusammen und hatte seinen scharfen Verstand in der Zeit schätzen gelernt. Leider schien sein Körper ihn aber zunehmend im Stich zu lassen. Sein Humpeln war in den letzten Wochen wieder stärker geworden. Bislang hatte er seine Rückenprobleme mit Spritzen und Massagen in den Griff bekommen, aber Nele ahnte, dass Eckert bald für längere Zeit ausfallen würde.
»Ich habe mit dem Besitzer gesprochen«, sagte er. »Ein Wilhelm Harms. Landwirt aus Bruchhausen. Er hat die Anlage vor zehn Jahren bauen lassen und sie sechs Jahre betrieben. Seit vier Jahren steht sie leer. Der Mann ist pleite, hat sich verkalkuliert. Er sucht schon lange nach einem Käufer, findet aber niemanden, der bereit ist, einen angemessenen Preis zu bezahlen. Harms sagt, er selbst sei seit Beginn des Winters nicht mehr hier gewesen. Ich habe den Mann in einer Kneipe angetroffen, er hatte getrunken.«
»Hat er potentielle Käufer hier herumgeführt?«
»Nicht er selbst, aber ein Makler. Ein halbes Dutzend vielleicht, aber nicht über den Winter.«
»Die müssen alle befragt werden, auch der Makler. Wer kümmert sich um die Leute in der Gegend?«
»Richard ist mit seinen Jungs unterwegs, sie sind aber nur zu sechst. Es wird also eine Weile dauern, bis sie mit diesem weitläufigen Gebiet durch sind.«
»Egal, es wird sich auf jeden Fall lohnen. Irgendjemand hat bestimmt was gesehen. Die Menschen hier draußen sind sehr aufmerksam. Richard soll sich auch um die Jugendlichen kümmern. Die Wände sind voller Graffiti.«
»Hab ich gesehen, aber ich befürchte, die stammen eher aus dem Sommer. In den letzten zwei, drei Monaten war das bestimmt ein ziemlich ungemütlicher Ort.«
Damit konnte Eckert Recht haben. Schon seit Wochen lag die Temperatur in diesem härtesten Winter seit
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