Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
klein und betrachtete das Paar auf dem Bett. Sie sah den nackten Mann, der den kleinen, zerbrechlichen Körper der Frau fast zur Gänze bedeckte. Sie hatte dünne Arme und Beine, die Rippen ließen sich mit Blicken zählen, und die Schulterknochen ragten weit aus der Haut.
Der Mann arbeitete, schien seinen Körper als Werkzeug zu begreifen, mit beiden Händen stützte er sich auf der Matratze ab, legte den Kopf in den Nacken, stieß und stieß und stieß, bis sich die Muskulatur an Gesäß und Beinen zu verkrampfen begann.
Das war ihr Zeichen, ihr Startsignal. Jetzt musste sie rasch zurück in ihren Körper, um die Frage beantworten zu können, die er gleich stellen würde. Er stellte sie immer. Seit Jahren.
Nicola huschte hinein und hatte die Antwort schon auf den Lippen.
»Ja. Ich verspreche es dir.«
Aber die Frage blieb aus.
Die Gersteins lebten am Ortsrand von Beckedorf in einer ruhigen Wohnstraße, in der sämtliche Häuser aus den siebziger Jahren stammten, Bungalows mit flachen Dächern, Garagenanbauten und penibel gepflegten Gärten. Die Spießigkeit troff geradezu aus den Dachrinnen.
Vor der dunklen Mahagonitür von Haus Nummer 8 zögerte Alex einen Moment. Er hatte absichtlich vorher nicht angerufen. Er stellte seine Fragen lieber, wenn sein Gegenüber unvorbereitet war, und sah den Menschen dann direkt in die Augen. Denn auf der kurzen Distanz zwischen Augen und Lippen ging oft viel Wahrheit verloren.
Sein Besuch würde Danielas Eltern also überraschen, und wenn er sie mit dem konfrontierte, was er über ihre Tochter herausgefunden hatte, würden sie wütend werden und ihn vielleicht sogar hinauswerfen. Hatte es alles schon gegeben. Gut, dass wäre dann ihr Problem, denn den Vorschuss würde er auf jeden Fall behalten.
Keine Erfüllungsgarantie stand im Vertrag. Er musste die Kleine nicht finden, um die Kohle zu verdienen.
Alex drückte den Klingelknopf und wappnete sich innerlich gegen den aufbrausenden, misstrauischen Herrn des Hauses, Siegfried Gerstein.
Der Ton drinnen klang alt und edel, wie der Glockenschlag eines Kirchturms. Wie mochte Daniela sich in diesem Haus gefühlt haben? War dieses Gefängnis aus Sauberkeit, Strenge, Spießigkeit und soldatischer Ordnung am Ende unerträglich für sie geworden?
Elke Gerstein öffnete die Tür.
Sie war eine kleine Frau, vielleicht eins fünfzig, schlank und drahtig, trug ihr braun gefärbtes Haar schulterlang und offen. Ihr Gesicht war fein geschnitten, die Nase etwas zu lang, was ihre Attraktivität aber nicht minderte. Sie trug zu sauberen und gebügelten Bluejeans eine beige Bluse mit Strickweste. Elke Gerstein war neunundvierzig Jahre alt.
Sie war überrascht, ihn zu sehen, lächelte aber und streckte die Hand aus. »Herr Seitz, ich hatte Sie nicht erwartet. Haben Sie etwas herausgefunden?« Über die Traurigkeit in ihren hellblauen Augen schob sich unversehens Hoffnung.
»Darüber würde ich gern mit Ihnen sprechen. Haben Sie und Ihr Mann ein paar Minuten Zeit?«
»Oh, mein Mann ist leider nicht da, er erledigt ein paar Besorgungen.«
»Das macht nichts. Wir beide können das auch allein besprechen.«
»Gut, wenn Sie meinen, dann kommen Sie doch bitte herein. Wir gehen ins Wohnzimmer.«
Elke Gerstein schritt voran und bot ihm einen Platz auf der gediegenen Ledercouch an.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Kaffee vielleicht?«
Sie rang um Fassung, das war nicht zu übersehen. Ihre Hände rieben raschelnd aneinander, ihr Lächeln war ein Kunstwerk aus Routine, guter Erziehung und langsam schwindender Kraft.
Alex schüttelte den Kopf. »Frau Gerstein, setzen Sie sich bitte … und entspannen Sie sich. Ich weiß noch nicht, wo Ihre Tochter ist, so schnell geht das nicht, aber es gibt trotzdem etwas, was ich dringend mit Ihnen besprechen muss … Und eigentlich passt es mir ganz gut, dass Ihr Mann nicht anwesend ist.«
Sie ließ sich in den Sessel fallen. Unter ihrem Fliegengewicht sank er nicht einmal ein. Sie zwinkerte nervös. »Ich … Ich verstehe nicht.«
»Haben Sie oder Ihr Mann Daniela den Laptop gekauft?«
»Den … Nein, das hat sie selbst getan. Wir haben ja keine Ahnung, was die Jugendlichen heute so brauchen.«
»Und wahrscheinlich haben Sie auch keine Ahnung, was sie damit gemacht hat, oder?«
Ihre Augen wurden schmaler. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Möglicherweise hat Ihre Tochter Nacktfotos von sich ins Netz gestellt, eventuell auch live vor der Webcam posiert.«
»Wie bitte? Was?
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