Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
stehen geblieben. Sie ließ den Arm mit der Waffe sinken.
»Was ist los?«, fragte Miriam.
Sie wollte Simone an der Schulter packen, doch die Polizistin drehte sich langsam um, die Waffe polterte zu Boden, und sie griff sich mit beiden Händen an den Hals. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie sie an.
Dunkle Flüssigkeit lief schwallartig über ihre Hände. Miriam verstand nicht, was sie da sah, bis Simone einen röchelnden Laut ausstieß und auf sie zu torkelte. Miriam wollte sie stützen und bekam einen Schwall Blut auf die Hände, an den Oberkörper und auch ins Gesicht. Von einer Sekunde auf die andere war alles voller Blut. Erschrocken wich Miriam in die Diele zurück.
Simone nahm eine Hand vom Hals und streckte sie hilfesuchend nach ihr aus. Sofort flossen unglaubliche Mengen Blut hervor. Schwarz und ölig wirkte es in der Dunkelheit und platschte laut zu Boden. Miriam konnte einen langen, klaffenden Schnitt seitlich am Hals der Polizistin erkennen.
Simone wollte etwas sagen, ihre Lippen bewegten sich, doch sie bekam nicht mehr als ein Röcheln heraus. Dann ging sie in die Knie, hielt sich für eine Sekunde in dieser Position, kippte schließlich um und blieb auf dem Rücken liegen.
Miriam wusste nicht, was sie tun sollte. »Was ist passiert … Was ist passiert …«, sagte sie immer wieder.
Simones Beine zuckten über den Dielenboden, als suchten sie verzweifelt einen Halt in dieser Welt. Ihre Augen bekamen einen glasigen Ausdruck, ihre Bewegungen wurden langsamer.
Eine große Gestalt tauchte im Eingangsbereich auf.
In der Hand hielt sie ein Messer.
Nicola hockte in der geschützten Ecke zwischen Wand und Wohnzimmerschrank am Boden und starrte auf die gelb schimmernde Anzeige des schnurlosen Haustelefons. Sie hielt das schmale graue Plastikteil, das kaum etwas wog, mit beiden Händen umklammert, und ihre Hände zitterten wie Espenlaub.
Es war seine Handynummer.
Sollte sie mit ihm sprechen?
Die Polizistin hätte ihr sicher davon abgeraten, aber die war nicht mehr da. Niemand war da! Sie war allein in diesem großen gelben Käfig, und die Mauern, so dick sie auch waren, verhinderten nicht, dass sie sich zu Tode fürchtete. Angst war immer ein fester Bestandteil ihres Lebens gewesen, und in einem bestimmten Maß hatte sie sich daran gewöhnt. Aber diese Angst war anders. Nicola zitterte nicht vor ihrem Mann oder seinem Anruf, sondern vor dem Unbekannten, vor diesem riesigen schwarzen Loch, welches durch ihre eigene Dummheit in ihr Leben gerissen worden war.
Warum nur hatte sie auf den Arzt gehört?
Warum nur hatte sie auf die Polizistin gehört?
Sie waren so nett, so aufmerksam und mitfühlend gewesen, aber jetzt war keiner mehr da. Nicht einmal mehr ihr Mann!
Wie von selbst drückte ihr Daumen die Taste.
»Ja«, hauchte sie ins Telefon.
»Nicola?«
Es war seine Stimme, natürlich, aber sie klang verändert. Sie klang unsicher, so, als habe auch er Angst.
»Ja«, wiederholte sie.
»Geht es dir gut?«
Vielleicht war es nur Wunschdenken, aber klang seine Stimme nicht sogar tränenerstickt?
»Nein«, sagte sie.
»Mir auch nicht. Du musst mir bitte glauben! Das tut mir alles so leid, wirklich. Ich habe das doch nicht gewollt. Ich weiß nicht, was … Mir wird das alles zu viel, ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Mit der Firma läuft es nicht so gut, das Wasser steht mir bis zum Hals. Mir geht es wirklich beschissen.«
Seine Sätze verschwammen zu einer grauen Masse, aus der nur vereinzelt Worte hervorblitzten wie hell erleuchtete Fenster in einem vorbeirasenden Schnellzug.
»Ich … Ich … Ich …«
Er sprach nur von sich. Er wollte gar nicht wissen, wie es ihr ging, sondern nur schildern, wie sehr er unter der Situation litt.
»… und ich kann dir gar nicht beschreiben, wie schlecht es mir geht … Bist du noch da, Nicola?«
»Ja.«
»Meinst du nicht, wir könnten es noch einmal versuchen? Ich komme vorbei, und wir reden über alles, ja? Nur du und ich. Wir brauchen doch keine anderen Leute zwischen uns, nicht wahr?«
»Liebst du mich noch?«
Selbst für Nicola kam diese Frage unvermittelt, und sie erschrak. Sie hatte weder darüber nachgedacht, noch sie stellen wollen, und obwohl diese Worte einer Fremdsprache gleichkamen, waren sie einfach so herausgeströmt. Soweit sie sich erinnerte, hatte sie ihm diese Frage nur ein einziges Mal gestellt, und das war in einer anderen Zeit gewesen.
»Was ist denn das für eine Frage. Natürlich! Das war immer so und wird
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