Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
werden.« Nele öffnete die Augen und sah Anou direkt an. »Du riskierst zu viel, Anou, und gerade weil ich dich liebe, verletzt du mich damit … Und irgendwann auch dich selbst.«
»Es geht also wieder um die alte Geschichte.«
Der abweisende Ton in Anous Stimme schürte den schwelenden Ärger in Nele. »Es geht um dich … Und damit auch um uns beide.«
»Was soll das werden? Willst du mich unter Druck setzen, damit ich endlich eine Therapie …? Halt, Moment mal!«
Anou sprang auf, trat ein paar Schritte von der Couch weg und fixierte Nele. »Du hast mit dieser Psychotante über mich gesprochen.«
Jetzt musste Nele sich entscheiden, ob sie lügen wollte oder nicht.
»Das ist genau, was ich meine«, wich sie erst einmal aus. »Ich kann mich mit dir nicht darüber unterhalten, ohne dass du gleich an die Decke gehst.«
»Und deswegen redest du mit einer völlig Fremden über mich?«
Anou wurde lauter. Ihre Körperhaltung signalisierte Gegenwehr. Die Hände zu Fäusten geballt stand sie mit vorgezogenen Schultern da, das Kinn nach oben gereckt.
»Mit irgendjemandem muss ich ja reden. Hätte ich es mit Hendrik tun sollen? Oder glaubst du etwa, ich lasse dich jetzt immer so weitermachen!«
»Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst.«
»Das sehe ich anders.«
Anou öffnete den Mund, wollte etwas sagen, hielt die Worte aber zurück. Sie sahen sich schweigend an. Dann schüttelte Anou den Kopf und wandte sich ab.
»Das brauche ich heute nicht mehr«, sagte sie.
Sie ging in den Flur, zog Schuhe und Jacke an, nahm ihre Waffe und verschwand.
Als die Wohnungstür zuknallte, zuckte Nele zusammen. Während Anou sich anzog, hatte Nele überlegt, ob sie sie zurückhalten sollte. Was aber auf eine Entschuldigung ihrerseits hinausgelaufen war, und das wollte Nele nicht. Nicht sie war es, die dauernd Grenzen überschritt, und solange Anou nicht einsah, dass sie wirklich Probleme hatte, würde sich nichts ändern. Frau Dr. Sternbergs Rat war es gewesen, Anous Risikobereitschaft auf einer persönlichen, nicht dienstlichen Ebene zu thematisieren, und Nele war bereit gewesen, es zu versuchen. Dass es aber so hart werden würde, hatte sie nicht erwartet.
Eine Weile starrte sie vor sich hin und kaute ihre Gedanken immer wieder durch. Schließlich ließ sie sich einfach zur Seite sinken, zog die Wolldecke über sich und war Sekunden später eingeschlafen.
Als Wut und Ärger langsam abflauten, stiegen Tränen in ihre Augen und verschleierten ihren Blick. Die Lichter der Straßenlaternen und Ampeln zerflossen zu geisterhaften Schemen, ihre Nase begann zu kribbeln, und sie spürte ein schmerzhaftes Brennen tief in ihrem Brustkorb.
Mit dem Rücken der linken Hand wischte Anouschka Rossberg sich die Tränen aus den Augen, mit der rechten steuerte sie ihren Wagen die feuchte, im Nachtfrost glitzernde Straße hinunter.
Aus Wut hatte sie schon öfter geheult.
Aus Liebe noch nie.
Dieser verdammte Karel Murach! Vor einem Jahr auf den Gleisen, als er mit einem Messer in der Hand hinter ihr her gewesen war, hatte Anou ihm eine Kugel in den kranken Schädel gejagt. Er war tot und begraben und wahrscheinlich schon verwest, und trotzdem beeinflusste er immer noch ihr Leben. Wenn er sich zu allem, was er ohnehin schon angerichtet hatte, jetzt auch noch zwischen sie und Nele schob, war alles, was sie durchgemacht hatte – die Schmerzen, die Angst, die inneren Verletzungen –, umsonst gewesen. Dann wäre auch der gewaltige Schritt sinnlos, den sie hatte gehen müssen, um Murach zu töten. Sie hatte damals eine Grenze überschritten, jene imaginäre Linie, die sie nun von den meisten anderen Menschen trennte.
Das war so unfair!
Anou war tief enttäuscht, denn dieses Verhalten hatte sie von Nele nicht erwartet. Sie waren doch ein eingespieltes, vertrautes Zweierteam, und bislang hatte alles wunderbar funktioniert.
Warum jetzt dieser Verrat?
Das war ein hartes Wort, ja, aber Anou empfand tatsächlich so. Nele konnte nicht einfach mit einer Wildfremden über ihr Seelenleben sprechen, ohne sie vorher zu fragen, ohne sie zu beteiligen. Noch dazu grundlos. Sie brauchte keine psychologische Hilfe, hatte sie damals nicht gebraucht und sie würde auch in Zukunft allein mit ihren Problemen zurechtkommen.
Vorn an der Kreuzung schaltete die Ampel auf Rot. Anou ließ den Audi ausrollen und stoppte an der Haltelinie. Sie schniefte und wischte abermals ihre Tränen fort.
Plötzlich bedauerte sie es, einfach so abgehauen zu sein. Sie
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