Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
Diesmal wartete sie aber ab, bis die Mailbox dranging, und bat dringend um Rückruf.
Der gestrige Abend war beschissen gelaufen. Sie musste unbedingt mit ihr reden. In Ruhe, nicht nebenher. Sie musste so vieles und kam doch zu nichts.
Der Streifenwagen kam mit Blaulicht, aber ohne Martinshorn um die Ecke.
Nele widerstand dem Impuls wegzulaufen.
Sie widerstand ihm ein zweites Mal, als sie auf dem Hof der Singer aus dem Streifenwagen stieg.
Der Dienstwagen der Polizistin parkte im Unterstand.
Der kräftige Wind fuhr durch die hohen Eichen und schien ihr eine Warnung zuzuraunen.
Geh nicht weiter. Das willst du gar nicht sehen .
Natürlich ging sie trotzdem auf das Haus zu.
Zwei Meter von der Tür entfernt blieb Nele abrupt stehen. Die beiden Beamten, die sie abgeholt hatten, schlossen zu ihr auf und sahen nun ebenfalls die große, angetrocknete Blutlache auf dem Boden des überdachten Eingangsbereiches.
Gleichzeitig zogen die drei ihre Waffen.
Nele stakste zwischen den Blutflecken hindurch zur Haustür und stellte fest, dass sie nur angelehnt war. Sie gab den beiden Männern ein stummes Zeichen, ihr zu folgen, dann drückte sie die Tür vorsichtig nach innen.
Ein Fuß mit einem schwarzen Sportschuh daran stoppte sie.
Um die Leiche der jungen Polizistin herum hatte sich ein wahrer See geronnenen Blutes gebildet. Das durch die Haustür hereinfallende Licht reichte aus, um die schreckliche Wunde an ihrem Hals erkennen zu können.
Nele presste sich die linke Hand vor den Mund und schloss die Augen. Ohne die beiden Polizisten in ihrem Rücken hätte sie die Diele fluchtartig verlassen. Alles in ihr lechzte danach, draußen in der Winterkälte zu stehen und sich den Wind um die Ohren wehen zu lassen, denn der Wind hatte Recht gehabt: Sie wollte das hier nicht sehen.
Trotzdem blieb sie stehen und kämpfte gegen den Würgereflex an.
»Verflucht!«, stieß einer der beiden Beamten hervor.
Nele kniff die Augen zusammen und spähte in die lange, dunkle Diele. Die Stille darin war bedrückend. Sie spürte einen kalten Luftzug, so als stünde irgendwo ein Fenster auf.
»Rufen Sie Verstärkung, Spurensicherung … Alles, was dazugehört. Aber schnell.«
Ohne ein weiteres Wort entfernte sich einer der Beamten. Zusammen mit dem anderen drang Nele tiefer in die Diele vor, hielt dabei aber ausreichend Abstand zur Leiche.
»Treten Sie nicht ins Blut«, wies sie den Mann an. »Und fassen Sie auf keinen Fall etwas an.«
Den Tatort nicht mit ihren eigenen Spuren zu kontaminieren durfte sie nicht davon abhalten, nach Miriam Singer zu suchen, aber sie mussten vorsichtig sein.
Nele schickte ein Stoßgebet zum Himmel: Hoffentlich hatte die Frau es ein zweites Mal geschafft, dem Täter zu entkommen. Sie glaubte nicht an Gott. Es war die pure Verzweiflung, denn sie ahnte, in welchem Zustand sie Miriam vorfinden würde, wenn schon eine bewaffnete Polizistin keine Chance gehabt hatte.
»Frau Singer …«, rief sie laut.
In der langen, spärlich möblierten Diele gab es ein kurzes Echo, aber keine Antwort.
Die Waffe entsichert, aber zu Boden gerichtet und mit dem Beamten im Schlepptau ging Nele weiter vor bis zur Wohnzimmertür. Sie war geschlossen. Nele drückte die Klinke mit nur einem Finger hinunter.
Kalte Luft schlug ihr entgegen, und sie sah auch sofort den Grund dafür: Das große Wohnzimmerfenster war zerstört. Scherben lagen über den halben Raum verstreut. Ein faustgroßer Feldstein lag mitten im Raum. Es war eiskalt. Mit einem Blick registrierte Nele die Teetassen, die halbvolle Kanne, das Halmaspiel und den über die Lehne der Couch geworfenen Pullover.
Der Täter musste geschickt vorgegangen sein, um eine bewaffnete Polizistin, die zudem noch gewarnt und auf der Hut war, überwältigen zu können. Hier war die Scheibe eingeworfen, die Leiche lag aber vor der Haustür, und die war nicht abgeschlossen. Schon rotierten in Neles Kopf die Gedanken, aber sie war noch zu sehr abgelenkt, um sich auf den eventuellen Hergang konzentrieren zu können.
»Wir müssen Frau Singer suchen«, sagte sie.
Inzwischen war auch der zweite Polizist zurückgekehrt.
»Sie beide durchsuchen die Räume im Untergeschoss, ich gehe nach oben.«
»Sie sollten nicht allein …«, begann der ältere.
»Der Täter ist nicht mehr hier. Haben Sie das Blut gesehen? Es ist längst geronnen. Der ist schon lange weg. Seien Sie trotzdem vorsichtig, zerstören Sie vor allem keine Spuren.«
Sie teilten sich auf.
Nele stieg die Treppe hinauf.
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