Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
herumzumanövrieren. Aber wie schwarzer Hautkrebs wuchs das Problem unter der Oberfläche, und Nele spürte, dass es heute Abend noch herausoperiert werden musste.
»Sehr interessant, aber zu kurz«, antwortete sie. »Die Dozentin kommt von der OFA.«
Nele schloss die Haustür auf.
»Operative Fall-Analyse«, sagte Anou.
»Ja. Sie ist eine der wenigen dort angestellten Psychologen. Wirklich kompetent die Frau und dabei nicht so unverständlich fachbezogen, wie man vermuten würde.«
Sie gingen nebeneinander die Treppe hinauf.
»Und? Erkennt sie einen Psychopathen auf den ersten Blick?«
Nele schloss die Wohnungstür auf und ließ Anou den Vortritt. Sie hängten ihre Jacken und Dienstwaffen an die Garderobe und streiften die Schuhe ab.
»Ich muss kurz für kleine Mädchen«, sagte Nele, ließ die Frage zunächst unbeantwortet und verschwand ins Bad.
Anou hätte eventuell mitkommen können zu dem Seminar, wenn sie sich um einen Ersatz für ihre Bereitschaft gekümmert hätte, aber sie hatte nicht gewollt und Nele unterschwellig spüren lassen, wie wenig sie von dem Psychokram hielt. Für Nele war das ein weiterer Hinweis auf den Seelenzustand ihrer Freundin gewesen. Damals, nachdem Anou den Serienmörder Karel Murach erschossen hatte, hatten sie intensiv über psychotherapeutische Hilfe gesprochen. Anou hatte es aber auf die lange Bank geschoben und irgendwann behauptet, es sei nicht nötig. Lange, viel zu lange, hatte Nele sich der Hoffnung hingegeben, Anou sei wirklich stark genug, allein mit dem Trauma fertig zu werden. Dabei hatte sie nur die Augen verschlossen vor der unangenehmen Wahrheit, die sich nun mit jedem Tag deutlicher in ihrem Leben und ihrer Beziehung manifestierte.
Denn Anou war ein anderer Mensch geworden, und sie brauchte sehr wohl Hilfe. Und das größte Problem war, es ihr beizubringen. Nele hatte Angst davor. Hatte Angst vor der Möglichkeit, ihrer Beziehung irreparablen Schaden zuzufügen. Sie liebte Anou. Das war nicht einfach nur eine auf gutem Sex basierende Freundschaft.
Als sie aus dem Bad kam, lümmelte Anou mit einer Tüte Erdnussflips auf der Couch.
Nele setzte sich dazu und griff in die Tüte.
»Und?«, fragte Anou mit halbvollem Mund.
Nele musste erst aufessen, bevor sie antworten konnte. »Sie hatte tatsächlich Tipps für uns, mit deren Hilfe wir Soziopathen besser erkennen können.«
»Mach es nicht so spannend.«
»Warte, ich will es ja richtig wiedergeben.« Nele suchte in ihrem Gedächtnis nach den Worten, die Frau Dr. Sternberg benutzt hatte. »Sie hat eine gewisse Martha Stout zitiert mit folgenden Worten: Sollte der Teufel existieren, dann würde er sich von uns allen wünschen, dass wir ihn über die Maßen bemitleiden.«
Anou schaute sie erstaunt an. »Verstehe ich nicht.«
»Das zuverlässigste Merkmal, einen Soziopathen zu erkennen, ist nicht seine Grausamkeit, nicht die Brutalität, nicht die Eiseskälte … Das alles erkennen wir ja immer erst dann, wenn es zu spät ist. Nein. Es ist sein Betteln um Mitleid.«
»Sie betteln um Mitleid?«, wiederholte Anou.
»Erstaunlich, oder?«
»Das ist alles?«
»Und der unbedingte Wille zu gewinnen, egal, was. Aufmerksamkeit, Geld, Liebe, Ruhm, irgendein Spiel, das oft nur sie selbst kennen. Sie stimulieren und motivieren sich über das Gewinnen.«
»Hm«, machte Anou. »Ist mir irgendwie zu theoretisch.«
»Sie hat es in ein alltägliches Beispiel verpackt, denn es ging in diesem Seminar ja um den alltäglichen Soziopathen, nicht um den Massenmörder. Aber wenn ich ehrlich sein soll, bin ich jetzt zu müde, um alles noch mal wiederzugeben. Du hättest eben mitkommen sollen.« Nele schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
»Bevor du einschläfst, würde ich gern mit dir über etwas sprechen«, sagte Anou nach einem kurzen Schweigen.
»Wie hast du das gemeint, heute Nachmittag bei den Mastställen?«
Obwohl sie plötzlich wieder hellwach war, hielt Nele die Augen weiterhin geschlossen. Sie hatte inständig gehofft, dass Anou von selbst darauf zurückkommen würde. »Was meinst du?«
»Du hast gesagt, ich würde unsere Beziehung mit Füßen treten … Wie kommst du darauf?«
»Ich habe nur versucht, dir zu sagen, wie es sich für mich anfühlt.«
»Aber das ist doch der totale Quatsch. Ich liebe dich. Wieso sollte ich so etwas tun?«
»Aus Angst?«
»Angst? Wovor?«
»Dich endlich mit der Vergangenheit zu beschäftigen und dir einzugestehen, dass es nicht so einfach ist, damit fertig zu
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