Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
wie Carla.
»Sie sind das erste Mal hier, oder irre ich mich?«
»Ja, sind wir. Wir wollen uns erst einmal anschauen, was Sie hier so tun.«
»Natürlich«, sagte Horst Schön. »Seien Sie mir herzlich willkommen. Ich freue mich jederzeit über neue Gäste … Gerade, wenn sie so attraktiv daherkommen wie Sie beide.«
Schon hier war Jördis’ Schauspieltalent gefragt, und sie schaffte es, ihm für diese Anbiederung ein herzliches, die Zähne entblößendes Lächeln zu schenken.
»Welches Interesse haben Sie an Literatur?«, fragte Schön, legte dabei seine Hände wie fürs Gebet zusammen und rieb sie aneinander. Die trockene Haut raschelte laut.
Diesmal antwortete Carla. »Nun, wir lesen beide gern und haben uns auch schon an eigenen Kurzgeschichten versucht. Wir haben gehört, hier würde man möglicherweise ein Forum finden, in dem man sich über eigene Werke austauschen kann.«
»Und das ist richtig«, sagte Schön. »Ein wesentlicher, sogar der größte Teil unserer Arbeit hier besteht darin, unentdeckte Talente zu fördern. Wir schleifen sozusagen die Rohdiamanten. Haben Sie denn eines Ihrer Werke mitgebracht?«
Carla schüttelte den Kopf. »Nicht so schnell. Wie schon gesagt, wollen wir heute erst einmal zuhören. Sie müssen wissen, meine Freundin hat mich eigentlich zu diesem Besuch überredet, denn ich bin kein Fan von solchen Treffen.«
»Aber warum denn nicht? Was gibt es Schöneres, als sich unter Gleichgesinnten über Literatur auszutauschen?«
»Was gibt es Destruktiveres, als seine eigenen Texte von neidischen Talentlosen verreißen zu lassen?«
Jördis beobachtete Horst Schön genau, während Carla ihrer Absprache gemäß begann, ihn aus der Reserve zu locken. Und es funktionierte – der aufgesetzt joviale Mann schien irritiert. Hinter seiner Brille verengten sich seine Augen, und er fixierte Carla zum ersten Mal genauer.
»Haben Sie Angst?«, fragte er.
»Nein, ich habe keine Angst. Aber wer braucht so etwas?«
Schön wog seinen Kopf. »Auch aus Kritik heraus kann man eine Menge lernen, oder sehen Sie das anders?«
»Wenn dem so wäre, müssten die Literaturkritiker dieser Welt allesamt in Unterrichtsräumen sitzen und angehende Schriftsteller unterrichten.«
Die Tür wurde geöffnet, und drei weitere Frauen betraten den Raum. Jördis und Carla mussten beiseitetreten, und damit war die Spannung, die so schnell zwischen Schön und Carla entstanden war, verschwunden.
Er fand zu seinem professionellen Lächeln zurück. »Lassen Sie uns dieses anregende Gespräch ein andermal fortführen, ja? Suchen Sie sich bitte einen Platz, wir beginnen gleich.«
Damit wandte er sich den gerade Eingetroffenen zu.
Jördis nahm Carla beiseite. »Übertreib es nicht, sonst redet der kein Wort mehr mit mir.«
Carlas Grinsen fiel bösartig aus. »Ich kann nicht anders. So ein ekliger schmieriger Wichser! Wie kann es sein, dass Frauen freiwillig hierherkommen?«
Die Antwort darauf erhielten sie in den nächsten anderthalb Stunden.
Vier Frauen trugen selbstgeschriebene Kurzgeschichten oder Romanfragmente vor, und es war jedes Mal Horst Schön, der eine angeregte Diskussion über diese Texte anstieß, der detailliert darauf einging, und das mit einem Maß an Emotionalität und Sensibilität, das weder Jördis noch Carla ihm zugetraut hätten. Er zerriss nichts. Er machte Mut, gebar Hoffnung, sprach Fehler zwar an, zeigte dann aber sofort Wege auf, wie man es besser machen konnte. Vor allem Carla, die Germanistik studierte, war beeindruckt von seinem Verhalten und seinem Fachwissen.
Horst Schön wuchs in dieser Rolle über sich hinaus. Er war ein begnadeter Redner und Rhetoriker und gewann sehr schnell das Vertrauen der Anwesenden. Die anderthalb Stunden vergingen wie im Fluge, und Jördis ertappte sich dabei, wie sie ein ums andere Mal an seinen Lippen hing. Natürlich waren die Frauen, die ihre eigenen Texte mitgebracht hatten und sich wahrscheinlich Hoffnung auf eine Veröffentlichung machten, begeistert von Horst Schön. Wie sollte es auch anders sein.
Aber etwas stimmte nicht.
Es dauerte eine Weile, bis Jördis drauf kam, und vielleicht irrte sie sich, weil sie durch ihr Vorwissen gleichsam vorbelastet war – aber sie empfand ihn als unehrlich und irgendwie … berechnend. Schon deswegen, weil er auf die beiden dicken, nicht sonderlich attraktiven Frauen nicht so einging wie auf die hübscheren und den einzigen Mann beinahe gar nicht beachtete, wenn er sich zu Wort meldete.
Zum Ende hin
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