Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
nicht den Raum vorgefunden, den sie erwartet hatte, sondern etwas vollkommen anderes. Keine Mauern, keine Betondecke, kein künstliches Licht, sondern die erschreckende Weite einer fremdartigen Welt.
Es war dunkel dort, nur am Horizont schwebten winzige Lichtpunkte. Sterne, es müssen Sterne sein, hatte sie zunächst gedacht, doch obwohl sie selbst sich nicht bewegt hatte, waren die Lichtpunkte immer näher gekommen. Und sie waren größer geworden. Groß genug, um zu erkennen, um was es sich wirklich handelte.
Gesichter!
Die schrecklich weißen Gesichter kleiner Jungen.
Sie alle waren um ihr Leben betrogen worden, waren getötet worden durch die Gedankenkraft eines einzelnen Menschen, und jetzt schrien sie ihre Qual hinaus. Stille Schreie waren das, die niemand hören konnte. Dafür strahlte die unnatürlich weiße Haut der kleinen Jungen in die Dunkelheit hinaus, wie um dieses Stummsein wettzumachen.
Mit diesen Bildern war Nicola erwacht.
Das lag jetzt zwei Stunden zurück, und seitdem hatte sie nichts anderes getan, war zu nichts anderem fähig gewesen, als in der Küche zu sitzen und durch den kurzen Gang auf die Metalltür zu starren.
Sie hatte das Haus für sich allein. Das war auch früher schon öfters so gewesen, wenn ihr Mann für mehrere Tage auf Messen oder zu geschäftlichen Treffen in anderen Städten unterwegs gewesen war. Und trotzdem war jetzt alles anders. Denn damals hatte sie mehr als genug damit zu tun gehabt, alles aufzuräumen, sauber zu halten und Vorbereitungen für seine Rückkehr zu treffen.
Das war jetzt nicht mehr nötig.
Die Polizei hatte ihn hinausgeworfen und ihm seine Schlüssel abgenommen.
Einer davon, der für »Die Tür«, lag vor ihr auf dem Küchentisch.
Und mit ihm lag noch viel mehr dort. Angst, Grauen, Verzweiflung, vor allem aber seine Präsenz. Der Schlüssel war ein Symbol für seine Macht über sie. Zehn Jahre lang hatte er Macht über sie ausgeübt, und sie war an keinem einzigen Tag auf die Idee gekommen, daran etwas zu ändern, sich aufzulehnen. In ihr Schicksal ergeben hatte sie nichts anderes tun können, als es sich in ihrer Hölle so behaglich wie möglich einzurichten.
Nein, das stimmte nicht.
Etwas hatte sie getan.
Einen Wunsch hatte sie ihm verwehrt.
Hatte sie damit bereits an den Grundfesten seiner Macht gerüttelt, ohne es zu bemerken? War im Grunde sie selbst schuld an allem, was daraus hervorgegangen war?
Diese Gedanken bereiteten Nicola körperliche Schmerzen. Sie spürte sie im Kopf, im Bauch, im Unterleib. Und sie wusste, die Schmerzen würden nicht weggehen, sondern nur noch schlimmer werden, wenn sie es nicht schaffte, den Schlüssel zu nehmen, den kurzen Gang hinunterzugehen, die Tür aufzuschließen und sich dem zu stellen, was sich dahinter befand.
Wenn sie es nicht schaffte, endlich seine Macht zu brechen.
»Die Fahndung hat absoluten Vorrang! Wir suchen die zweiundzwanzigjährige Miriam Singer. Eins siebzig, circa sechzig Kilo, dunkelblondes, schulterlanges Haar, helle Haut. Vermutlich befindet sie sich in der Gewalt eines einzelnen Mannes … Nein, die Identität des Mannes ist nicht bekannt. Er hat eine Polizistin getötet, ist wahrscheinlich bewaffnet und hochgefährlich. Geben Sie diese Warnung bitte an die Kollegen weiter. Vergessen Sie das auf keinen Fall.«
Nele Karminter beendete das Gespräch. Gleich darauf wählte sie Kriminalrat Dag Hendriks Nummer und unterrichtete ihn über die Lage und die ausgerufene Fahndung. Nachdem sie Hendrik weggedrückt hatte, rief sie Eckert an, informierte auch ihn und bat ihn, sofort zu kommen. Danach versuchte sie es erneut bei Anou, konnte sie jedoch abermals nicht erreichen. Ihre engste Mitarbeiterin, die Frau, die sie liebte, war die Einzige, die nicht ans Handy ging. Was war das? Kindische Rache für den gestrigen Abend?
Nele ließ das Handy sinken und atmete tief durch.
Hatte sie etwas vergessen?
Gab es noch etwas, was jetzt sofort in die Wege geleitet werden musste?
Jeden Moment würde der ganze Tross eintreffen und die Arbeit am Tatort aufnehmen. Dann war sie hier mehr oder weniger überflüssig. Die Fahndung war ausgerufen, wenngleich sie kaum etwas bringen würde. Miriam Singer war schon vor Stunden entführt worden. Wohin auch immer der Täter sie verbracht hatte, er hatte sein Ziel sicher längst erreicht. Wahrscheinlich lebte die Frau nicht mal mehr.
Nele sah wieder das Zimmer vor sich.
Überall blutige Abdrücke. Am deutlichsten aber auf dem Teppich vor dem Bett. Miriam
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