Bleiernes Schweigen
bestimmt.
Das sind nicht seine Männer, das ist er.
Er betritt das Wohnzimmer. Ein schwarz gekleideter Mann liegt am Boden, eine Schusswunde in Höhe des Schlüsselbeins. Die Pistole ist unter das Möbel geschlittert, auf dem das Heiligenbildchen von Padre Pio steht. Der Schatten siehtihn an, der Mann macht ihm ein Zeichen. Er braucht nicht lang zu überlegen, um zu wissen, was es bedeutet.
Der zweite Schuss kommt vom Dach. Dann ein dritter. Eine ganze Salve.
Er rennt hinaus.
Jemand rennt in Richtung Dorf davon. Er hört die Schritte, sieht ihn jedoch nicht. Die Dunkelheit verschluckt alles. Er wirft sich zu Boden. Die Kugel verfehlt ihn um wenige Zentimeter. Er drückt sich gegen die Hauswand.
Jemand von seinen Leuten auf dem Dach schießt ins Nichts. Der Schatten redet ins Mikro.
»Stopp«, sagt er.
Die Schüsse hören auf.
Die Welt ist grün und durchsichtig wie ein Aquarium. Der Schatten robbt über den Boden und macht neben einem Baum halt. Niemand ist zu sehen.
Er kneift die Augen zusammen, nur ganz kurz. Als er sie wieder öffnet, sieht er es sofort. Ein schwaches Leuchten, anders als der Rest. Ungefähr zehn Meter von ihm entfernt. Als er es erreicht, berührt er es mit dem Finger und riecht daran. Er kennt den Geruch von Blut.
Halb kniend späht er umher. Nach zwei Minuten sieht er ihn. Er lehnt an einem Baum, die Pistole in der Hand, die Augen halb geschlossen. Ein dunkler Fleck breitet sich rechts neben ihm aus.
Er blickt in seine Richtung und kann ihn nicht sehen.
Er duckt sich, bis er fast den Boden berührt.
»Niemand schießt«, raunt er. Dann spricht er lauter. »Bringen wir’s zu Ende.« Und sofort wirft er sich nach links.
Die Kugel hätte ihm den Kopf zerfetzt. »Er weiß, dass wir Westen tragen«, denkt er. »Er weiß, wie wir vorgehen.«
Er betrachtet sein Opfer. Wenn er noch länger unter dem Baum bleibt, wird er sterben.
Er sieht, wie er aufzustehen versucht. Er greift die Pistole beim Lauf und wirft sie so weit weg wie möglich.
Der Schatten erhebt sich.
Er könnte noch eine haben, könnte warten, bis er näher kommt und ihm das ganze Magazin auf den Pelz brennen. Er könnte bluffen und ihn umbringen.
Er weiß, dass es nicht so ist.
Als er vor ihm steht, stellt er seine Frage. Die einzige, auf die es ankommt. Letztlich eine Formalität.
»Pietro Vitale?«, fragt er.
»Du weißt, wer ich bin.« Der Schatten hebt die Pistole auf.
»Wann kommt der Krankenwagen«, fragt er ins Mikrofon. Während er auf die Antwort wartet, lässt er seine Beute nicht aus den Augen.
»Diesmal stirbst du nicht«, sagt er. »Ob das gut oder schlecht für dich ist, musst du selbst entscheiden.«
Seit Erscheinen des Artikels sind acht Tage vergangen.
Mein Vater hat dafür gesorgt, mir ein paar neugierige Kollegen vom Leib zu halten. Die eine oder andere Nachrichtensendung hat darüber berichtet, doch alle haben sich davor gehütet, allzu sehr darauf einzugehen. Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet.
Nach dem Abhören der Bänder haben wir uns nicht mehr wiedergesehen. Jeder von uns hat eine bestimmte Aufgabe, und jetzt, da ich meine erfüllt habe, reißt mich der Kopfschmerz in Stücke.
Ein dumpfer Schmerz zieht die Schläfen empor und entlädt sich hinter den Brauen. Etwas, das gegen den Schädel drückt und heraus will. Am späten Nachmittag hat es ganz plötzlich angefangen. Ich hatte nur kurz den Blick vom Bildschirm abgewandt, um meine Gedanken zu ordnen.
Es war da und hat auf mich gewartet. Genau wie diese Geschichte, die unter einer so hauchzarten Staubschicht verborgen ist, dass man noch nicht einmal saubermachen oder lüften muss, um sie zu entdecken.
Man muss nur genau hinsehen.
Meine Aufgabe besteht darin, parlamentarische Ausschussakten, Gesetzesentwürfe und Zeitungsarchive zu durchforsten. Auf Seite zwanzig verbannte Randnotizen, winzige Feinheiten, die in der Weitschweifigkeit der Entwürfe fast untergingen.
»Der Cosa Nostra sind viele Gefallen getan worden«, hat Daniele gesagt. Meine gesammelten Ergebnisse sind der Versuch, sie zu ordnen.
Ich gieße mir ein Glas Wasser ein, schlucke ein Beruhigungsmittel und setzte mich wieder vor den Computer.
»Jeder, der uns hilft, die Cosa Nostra und ihre Komplizen zu besiegen, ist uns willkommen.«
Der Satz stammt von Francesco Cèrcasi, seine erste öffentliche Äußerung zur Mafia. Begleitet vom üblichen hehren Blick und quittiert mit endlosem Applaus und Komplimenten. Schade, dass danach nicht mehr viel kam.
Ich
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