Bleiernes Schweigen
haben ebenfalls welche angestellt. Wer von denen hat beschlossen, nicht weiterzumachen?«
»Zufall.«
»Zufall«, murmelt er. »Ganz offensichtlich ist es so. Andernfalls käme man zu einem erschreckenden Schluss. Heute habe ich was Hübsches gehört. Es wird erwogen, die Lossagung bei Mafiabossen genauso geltend zu machen wie bei Terroristen. Man sagt sich von seiner Organisation los, muss keine Namen nennen, erhält Strafmilderung, und verschärfte Haftbedingungen gibt’s auch nicht mehr.«
»Bullshit.«
»Du wirst schon sehen. Und, was für ein Zufall, einer der Befürworter ist der ehemalige Oberstaatsanwalt von Caltanissetta.«
Stell dir die richtigen Fragen, denkt Daniele. Oft genügt das schon.
Borsellino weiß, woran Falcone ermittelt. Er zieht seine Schlüsse, sendet Signale aus. Er wird isoliert, macht aber weiter.Seine Tage sind gezählt, er muss sich beeilen. Soweit er begriffen hat, werden sie ihn nicht am Leben lassen. Er erfährt von den Verhandlungen. Er weiß, wer sie leitet. Er weiß, wer der Ansprechpartner ist. Er erfährt in Echtzeit, wie die Cosa Nostra agiert.
Er stellt Verknüpfungen her und folgt dem Faden.
Er kann nicht überleben, weil er nicht schweigen kann.
»Eine Sache würde ich dir gern zeigen«, sagt Carlo. Er steckt einen USB-Stick in den Computer, hantiert mit der Maus und dreht Daniele den Monitor hin.
Einen endlosen Moment starrt Daniele auf den Bildschirm: die Liste der Gefallen, die die Politik der Cosa Nostra getan hat. Eine lange Chronologie, die bei Paolo Borsellinos Tod beginnt und über Cèrcasis zwei Amtszeiten bis heute reicht. Die Fehlschläge sind gelb, die in Kraft getretenen Gesetze grün markiert.
Grün ist die Reform der Kronzeugenregelung. Sie wird einstimmig angenommen, von Mehrheit und Opposition, und verpflichtet den Pentito, seine gesamten Informationen innerhalb von sechs Monaten ab der ersten Aussage auf den Tisch zu packen. Selbst wenn er sein ganzes Leben bei der Cosa Nostra verbracht hat, hört ihm nach diesen sechs Monaten niemand mehr zu. Strafmilderungen werden allerdings erst gewährt, nachdem ein Viertel der Haftstrafe verbüßt ist. Mit dem vorhersehbaren Ergebnis, dass niemand mehr mit der Justiz zusammenarbeiten will.
Grün ist die Schließung der Haftanstalten auf den Inseln, auf Pianosa, auf Asinara, womit die Cosa-Nostra-Bosse wieder aufs Festland kommen. Und auch die Gesetzesänderung bezüglich verschärfter Haftbedingungen, die auf Terroristen und Menschenhändler ausgeweitet werden, ist grün. Sie ist dermaßen seltsam formuliert, dass es seit ihrem Inkrafttreten zahllose Berufungsverfahren gab. Und das mit Erfolg.
Gelb ist der Versuch, die U-Haft vor Prozessbeginn abzuschaffen, sollte der Mafioso keinen Fluchtversuch unternehmen.Mit diesem Antrag wären der gesamte Maxi-Prozess sowie das Verfahren zu Falcones Tod von vornherein zunichtegemacht worden.
Gelb ist der mehrmals auftauchende Vorschlag, bereits gültige Urteile dürften nicht in anderen Verfahren verwendet werden. Das Todesurteil für Mafiaprozesse. Bei jeder einzelnen Anklage, bei jedem einzelnen Verfahren, bei jedem einzelnen Vergehen muss erst einmal aufs Neue bewiesen werden, dass es eine Vereinigung namens Cosa Nostra überhaupt gibt und dass diese Vereinigung mafiös ist.
Daniele hat auf seinem Laptop eine ähnliche Liste, ein Beleg dafür, dass er, dass Carlo und alle anderen versagt haben. Wenn das Problem nicht die Anwendung des Gesetzes, sondern das Gesetz selbst ist, dann wird der zu bekämpfende Feind Teil des Kampfes.
Man kann nicht gewinnen.
»In meiner sind auch die Drohungen mit drin«, sagt er schließlich und Carlo muss lachen.
»Riinas Äußerungen, die Banner im Stadion, das tote Kaninchen vor Cèrcasis Haustür. Die ganze Palette?«
Daniele nickt. Er denkt daran, wie mühelos sich Cèrcasi stets selbst von den dreistesten Schlappen distanzieren konnte. Eine Pressekonferenz, die sofortige Entlassung eines unbekannten Abgeordneten oder des Ministers, der den Gesetzesvorschlag eingebracht hat.
Und dann Schweigen, das alles unter sich begräbt. Das gleiche Schweigen, das jetzt das Zimmer füllt, während Carlo die Datei schließt, den Stick aus dem Computer zieht und ins Leere starrt.
»In ein paar Tagen werde ich ein Verfahren einleiten.«
Leoffredi scheint aus einem Alptraum zu erwachen.
»Wie bitte?«
»Du hast mich doch gefragt, ob das hier nur nettes Geplauder ist oder ob mehr dahintersteckt. Das ist meine Antwort.Ich muss nur
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