Bleiernes Schweigen
hätte das nie getan. Das Schiff war sein Leben. Wenn ich heute darüber nachdenke, frage ich mich, wie meine Mutter es mit einem solchen Mann ausgehalten hat.«
Er wirft einen abwesenden Blick auf die Aktenordner in den Regalen.
»Vorhin haben Sie etwas ausgelassen.«
»Verzeihung?«
»Politische, wirtschaftliche und kriminelle Macht.« Bei jedem Wort hebt er einen Finger der linken Hand. Dann macht er eine Pause und hebt den vierten Finger. »Religiöse Macht. Das sind keine unterschiedlichen Welten und sind es nie gewesen. Werden es nie sein. Ein Land wie Italien klemmt zwischen zwei scheinbar gegensätzlichen Polen, die sich in Wirklichkeit sehr ähnlich sind. Cosa Nostra und das Papsttum. Beide kontrollieren ihr Territorium, ihre Herrschaft geht weit über ihre winzigen Grenzen hinaus. Beide könnten nur unbedeutenden Einfluss haben, doch das wird nie passieren. Denn die wahre Macht, die politische und finanzielle, ist zu sehr mit beiden verwoben, als dass man sie in die ihnen vermeintlich zustehenden Nebenrollen verweisen könnte. Sie sind die vier Seiten ein und desselben Objektes. Und bei drei dieser Seiten muss man oft sehr genau hinsehen, um die Unterschiede zu erkennen.«
Er trinkt einen Schluck.
»Bei diesen Bruchstücken von Geschichte, die Sie mir geschildert haben und die Sie versuchen zusammenzusetzen, ist mir ein Satz besonders hängengeblieben. Da steckt zu viel Staat drin. Das haben Sie mindestens dreimal gesagt. Ich halte das für eine Fehleinschätzung, die Sie teuer zu stehen kommen könnte. Sie sagen diesen Satz, als wunderten Sie sich über die Gegenwart der Geheimdienste oder die Kontakte zwischen Männern in verantwortungsvollen Posten und Handlangern der Mafia. Die Geschichte meiner Familie lehrt einen das Gegenteil.
Ein unaufmerksamer Beobachter könnte meinen, zwischen der Geschichte meines Vaters und der Geschichte, die Sie zu durchschauen versuchen, lägen Welten. Und eben diesen unaufmerksamen Beobachtern ist es zu verdanken, dass die Dinge falsch laufen. Zwischen damals und heute besteht kein Unterschied. Die Welt, für die mein Vater und seine Bank standen, die, die ihn umgab, die ihn zu Fall brachte und schließlich tötete, und die, die Ihrer Geschichte zugrunde liegt, sind verschiedene Gesichter ein und desselben Organismus’. Und das ist einer der Gründe, weshalb ich Italien verlassen habe.«
Er macht eine Pause, unschlüssig, ob er weiterreden soll.
»Ich weiß nicht, ob Sie es gerne hören, doch ich will ehrlich sein. Sie versuchen, eine längst vergessene Geschichte ans Licht zu zerren. Davon gibt es viele, doch die, die am meisten zählen, sind am tiefsten vergraben. Es gibt zwei Kategorien. Die erste sind die abgeschlossenen Begebenheiten. Sie bleiben unter der Erde, denn sie ans Licht zu bringen, würde bedeuten, einen Haufen Schweinereien zuzugeben. Das geht natürlich nicht. Zur zweiten Kategorie gehören die, die noch im Gange sind. An manchen davon hat sich mit der Zeit nichts geändert, manche haben sich der Umwelt angepasst. Manchmal kommen Dinge der ersten Kategorie ganz unerwartet ans Licht. Zufall, ein wiedergefundenes Dokument, jemand, der sich vor dem Tod das Gewissen erleichtern will. Doch die Zeit hat ihre Arbeit getan, und meist ist eine vollständige Rekonstruktion nicht mehr möglich. Es bleiben Vermutungen, Zweifel, Unklarheiten. Ein kurzes Aufflackern, und sie verschwinden wieder in der Versenkung. Überbleibsel aus der Vergangenheit, die eins mit dem Schweigen geworden sind.
Die Geschichte meines Vaters gehört zur zweiten Kategorie, ebenso wie Ihre. Und ich sage Ihnen noch etwas, vielleicht sind es zwei Äste desselben Stammes. Wie dem auch sei, es ist unmöglich, sie außerhalb solcher gepanzerten, unterirdischen, schalldichten Räume zu erzählen. Sie müssen innerhalb solcher mit Eierkartons verkleideten Wände bleiben, damit niemand auch nur ahnt, dass es sie gibt. Doch weder Sie noch ich geben sich damit zufrieden.«
»Was versuchen Sie mir zu sagen?«
»Dass Sie bis hierher gekommen sind, weil jemandem daran gelegen ist. Man kontrolliert Sie, beobachtet Sie, kennt jeden Ihrer Schritte. Auch jetzt. Persönlich interessiert mich das nicht, ich weiß, was ich aufs Spiel setze, und die wissen das auch. Doch niemand steckt die Hände in die Scheiße, in der Sie gerade herumwühlen, ohne dass die Wächter des Schweinestalles ihre Erlaubnis geben. Sie werden Ihnen erlauben, Ihren Teil der Widerwärtigkeiten hervorzuziehen, so lange es ihnen
Weitere Kostenlose Bücher