Bleiernes Schweigen
zurück. Ich folge ihm bis zur Eingangstür, und er zeigt mir einen Punkt am Meer.
»Da unten, sehen Sie es?«
»Das blaue?«
»Genau.«
Er gibt mir die Schlüssel.
»Ich erwarte Sie morgen am späten Vormittag. Passt Ihnen elf Uhr?«
»Sehr gut.«
»Also dann, bis morgen. Nehmen Sie den Weg über den Strand, dann kann man Sie von der Straße aus nicht sehen.«
Er verschwindet im Haus.
Ich bleibe vor der geschlossenen Tür stehen, die Schlüssel fest in der Hand, hinter mir der funkelnde Ozean, der zu schön ist für die Welt, die ihn umgibt.
Am nächsten Tag hatte das Telefon sehr früh geklingelt und mich aus einem wirren, unruhigen Schlaf befreit.
Es war der erste Anruf, den ich auf der Insel bekam. Bei meiner Ankunft hatte ich Adriano eine SMS geschickt, wenige Worte, die das Märchen vom Urlaub aufrechterhalten sollten und auf die er im gleichen Ton geantwortet hatte. Dann nichts mehr.
Das Geräusch des Handys um kurz nach acht Uhr morgens klang wie die Besiegelung einer Tragödie. Und so hatte ich einen Moment gezögert, ehe ich die Hand unter der Decke hervorzog und nach dem Telefon griff.
Eine unbekannte Nummer und Marco Di Donnas Stimme. Er müsse unser Treffen auf den Nachmittag verschieben, es sei etwas dazwischengekommen. Er hatte mir keine Zeit gelassen zu antworten. Ich saß da, das Telefon in der Hand, in einem fremden Bett und in einem Haus, das ich am Abend zuvor zum erstem Mal gesehen hatte, und musste zusehen, wie ich den Vormittag rumbekäme.
Eine Weile hoffte ich, ich könnte noch ein wenig schlafen. Also war ich liegengeblieben. Die Morgensonne sickerte durch die nachlässig geschlossenen Fensterläden auf das zerwühlte Bett, das Meeresrauschen kroch durch die Ritzen, und ich kämpfte gegen die Beklommenheit, die mir dieses freistehende Haus vermittelte, in dem es keine Geschosse zwischen mir und der ebenen Erde und keine Panzertür gab, die mir Sicherheit gewährte.
Wenn ich heute daran zurückdenke, da ich abends manchmal nicht einmal die Haustür abschließe und wochenlang keiner Menschenseele begegne, muss ich unwillkürlich lächeln. Doch dort in dem Strandhaus hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, nicht sicher zu sein. Ein derartiges Unbehagen hatte ich noch nicht einmal in der Nacht des Einbruches empfunden, es hatte gereicht, alles wieder aufzuräumen und den Schlüssel im Schloss umzudrehen, um zur alten, vermeintlichen Sicherheit zurückzukehren.
Nach dem Anruf war ich noch ein paar Stunden im Bett geblieben und hatte über den Vater des Mannes nachgedacht, der mich beherbergte.
Alessandro Di Donna ist 1982 in seinem Züricher Haus gestorben.
In demselben, in dem auch Marco lebte. Das Dienstmädchen hat ihn frühmorgens gefunden. Er saß im Sessel seines Arbeitszimmers und sah aus, als ob er schliefe. Auf dem Tisch eine ungeladene Pistole, ein Glas, eine fast leere Wasserflasche und eine Packung Schlaftabletten.
Selbstmord lautete die sofortige Diagnose. Schade nur, dass auf dem Glas und der Flasche keine Fingerabdrücke von Di Donna zu finden waren. Es waren überhaupt keine Fingerabdrücke zu finden. Überdies hatte während seiner Haft in Novara sechs Monate zuvor jemand versucht, ihn mit vergiftetem Kaffee umzubringen.
Dass er überlebt hatte, war reiner Zufall gewesen. Als er nach der Tasse griff, war sie ihm aus der Hand gerutscht. Das meiste war auf dem Boden gelandet, und das übrige Gift hatte lediglich gereicht, ihn eine Woche ins Krankenhaus zu befördern.
Er war Banker und Bankrotteur gewesen, hatte mit dem Vatikan, der Mafia und den Freimaurern Geschäfte gemacht. Er war selbst Freimaurer und Mitglied einer Geheimloge gewesen, die laut seiner eigenen Auskunft die Macht in Italien übernehmen wollte, ohne an die Regierung zu kommen. Er hatte Parteien und Erdölkonzerne finanziert. Hatte politische Bewegungen in Osteuropa und südamerikanische Revolutionäre im ewigen Kampf gegen den Kommunismus mit Spenden unterstützt.
Wir haben etwas gemeinsam, hatte Di Donna gesagt. Die Bemerkung hatte mich geärgert. Als ich am nächsten Morgen am Strand vor dem Haus entlangspazierte, wurde mir klar, dass er recht hatte.
Wir beide waren mit einer Vergangenheit gestraft, die wir zwar miterlebt, aber nicht durchschaut hatten. Und wir beide mussten dafür mit einer zwanghaften Suche nach der Wahrheit zahlen, mit dem verspäteten Versuch, die Vergangenheit zu reparieren wie eine kaputte Maschine, wie ein Modellschiffchen, das man auf eine alte Kommode stellt, um
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