Bleiernes Schweigen
nützt. Doch dann haben Sie nur zwei Möglichkeiten. Aufhören und sich ein ruhiges Plätzchen zum Leben suchen. Oder sich umbringen lassen. Aber ich nehme an, darauf sind Sie schon von allein gekommen.«
Ich höre ihm zu und weiß nicht, was ich sagen soll. Es überrascht mich lediglich, dass mir alles, was ich immer wieder höre, schon seit langer Zeit klar ist, vielleicht seit dem Tag, als ich beschlossen habe, anzufangen.
»Wofür müssen Sie sich rächen, Marco?«
Er ist verblüfft.
»Wann sind Sie darauf gekommen?«
»Die Wahrheit ist die Rache, erinnern Sie sich? Der Ausdruck, der Ton. Sie redeten nicht von Ihrem Vater.«
»Nein, Sie haben recht.«
»Eine Frau. Ihre Frau?«
»Deshalb sagte ich Ihnen, wir seien uns ähnlicher als Sie glauben.«
»Wieso glauben Sie, dass sie umgebracht wurde?«
»Zwei Pistolenschüsse, einer in die Brust und einer in den Kopf, als sie schon am Boden lag. Im offiziellen Bericht steht Raubüberfall mit Todesfolge. Einer der Räuber ist zwei Tage später in einem Wassergraben gefunden worden. Auf ihn haben sie nur eine Kugel verschwendet, genau zwischen die Augen. Ein Junkie, aber er hat nicht geschossen.«
Er senkt den Blick und sieht aus, als müsste er Glasscherben hinunterschlucken.
»Ich war seit zwei Tagen in Italien, seit dem Tod meines Vaters war ich nicht mehr dort gewesen. Es gab Dinge, die ich herausbekommen hatte und einem Richter erzählen wollte. Bereits eine Woche vor meiner Rückkehr erhielt ich zu jeder Tageszeit stumme Telefonate. Am Tag, an dem ich mir das Flugticket kaufte, lag ein toter Hund auf meinem Beifahrersitz. Ich habe mich nicht einschüchtern lassen. Zehn Minuten nach meiner Landung in Italien haben sie sie umgebracht. Sie werden verstehen, dass es schwer ist, an einen Zufall zu glauben.«
»Wieso wurden Sie nicht ermordet?«
»Meinen Sie, die hätten es nicht probiert? Sagen wir so, sie versuchen es relativ regelmäßig. Manchmal mehr, manchmal weniger entschlossen. Das letzte Mal vor sechs Jahren. Seit damals habe ich eine Art zu leben entwickelt, die sich recht gut bewährt, könnte man sagen. Und ich habe ganz klar zu verstehen gegeben, dass ich kein schweigendes Opfer sein werde.«
Mein ratloses Gesicht lässt ihn lächeln.
»Auf meine Art bin ich ebenfalls ein Geheimnishüter.« Er blickt sich um. »In diesem Moment sind wir von ihnen umgeben. Sie sind meine Lebensversicherung. Es sind die Ergebnisse der von mir in Auftrag gegebenen Untersuchungen über den Tod meines Vaters, über die Verbindungen zwischen Finanz, Wirtschaft, Vatikan und Mafia. Ich habe sie nur dank meines weit entfernten, gesicherten und unangetasteten Familienvermögens anstellen können. Durch sie habe ich viel begriffen und einen sechsten Sinn für die Details entwickelt, aus denen die Wirklichkeit besteht. Mich umbringen zu wollen, soll die Mühe wert sein. Irgendwann haben sie aufgehört, es zu versuchen. Vielleicht glauben sie, mein Schweigen sei die Bestätigung einer stummen Abmachung. Lasst mich leben und genießt euren Dreck. Und ich lasse sie in dem Glauben. Noch.«
Er lächelt.
»Ich bin in einem Haus aufgewachsen, in dem Bischöfe, Kardinäle, Minister und Regierungschefs, offizielle und verdeckte Freimauer, Finanzleute, Industrielle, Bankrotteure und Mafiosi ein und aus gingen. Mein Vater wurde von irgendeiner oder von sämtlichen dieser eben aufgeführten Kategorien umgebracht, ich sollte auch dran glauben, und alles sollte wie ein Unfall aussehen. Meinen Sie, mir kann noch etwas Angst machen?«
Der Alte hat verbrauchte Hände und ein schmales Gesicht. Blaue Augen, so hell, dass er fast blind wirkt. Schlohweißes, ungekämmtes Haar. Die Stimme rau vor Wut und zu vielen Zigaretten. Ein goldenes Kruzifix am Hals, das aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen scheint.
Würde man das Alter nach Jahren bemessen, wäre der Alte nicht alt. Womöglich trüge er einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd, eine auf die Millisekunde genaue Markenuhr. Oder einen sportlichen Pulli und entsprechende Schuhe, und an Herbstnachmittagen würde er mit zwei oder drei alten Freunden auf Trüffelsuche gehen. Er hätte ein Haus, vielleicht dasselbe wie heute, aber vollkommen anders. Angefangen bei der Stille, die in den Ohren dröhnt und durch des Alten Stimme nicht erträglicher wird.
»Was machen Sie hier nach so vielen Jahren, Dottore? Wieso sind Sie hier und reden über meinen Sohn?«
Daniele hat ihn aus einer Bar angerufen und sich mit ihm verabredet.
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