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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferruccio Pinotti , Patrick Fogli
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Wahrheit Patrizio Benettis vereinen sich in dem Wissen, das Marco Di Donna wie eine väterliche Erblast mit sich herumschleppt.
    Du siehst durchs Schlüsselloch, hat mir Benetti wenige Tage zuvor gesagt. Ich kann diese Worte nicht vergessen. Ich zitiere sie Di Donna, ohne ihren Urheber preiszugeben.
    »Schon möglich«, entgegnet er. »Ich kann Sie nicht recht deuten, wissen Sie? Ich meine Sie, nicht die Worte.«
    »Und ist das nötig?«
    Er lässt der Frage Stille folgen. Eine klare Antwort. Ich wusste von Anfang an, dass die wenigen Worte, die ich ihm geschrieben hatte, nicht ausreichen würden, um ihn von unserem Treffen zu überzeugen. Doch jetzt, mehrere Meter unter der Erde, habe ich wieder einmal das Gefühl, an einem Scheideweg zu stehen. Dem vielleicht letzten auf dieser seltsamen Reise, in die sich mein Leben verwandelt hat.
    Ich stehe auf. Ich muss mich bewegen, sonst fühle ich mich hier unten noch gefangener als ohnehin schon. Ich mustere die präzise Einrichtung, die Regale. Die Dutzende gleicher, geordneter Akten.
    Sie enthalten das Leben seines Vaters, da bin ich mir sicher. Das Leben, das er darauf verwendet hat, die Vergangenheit zu rekonstruieren, und die Vergangenheit selbst, die allzu schnell gelebt und erst begriffen wurde, als es nur noch Platz für Trauer gab.
    Ich drehe mich um und bin einen Moment lang überzeugt, er ist nicht mehr da. Er ist abgehauen oder hat sich einfach in Luft aufgelöst wie die Figur aus einem allzu realen Alptraum, der einen daran erinnern soll, was man tun müsste, sich aber zu tun fürchtet.
    Doch da sitzt er, sieht mich mit seinen kleinen, braunen Augen abwartend an, die Hände im Schoß gefaltet. Zum ersten Mal, seit wir uns kennen, macht er mir Angst.
    »Stimmt etwas nicht?«
    Du, würde ich am liebsten sagen. Du, der du das Stadium, in dem ich mich gerade befinde, überwunden hast und zu dem geworden bist, was du bist. Ein Mann, der seinen Geburtsort verleugnet und sein Leben darauf zu verwenden scheint, herauszufinden, ob er überhaupt noch eines hat. Ein Mensch von derartiger Eiseskälte, das man meint, unendliches Grauen halte ihn gefangen. Ein einsamer Mensch.
    Und wenn die Wahrheit Einsamkeit bedeutet, bin ich dazu verdammt, zu werden wie er.
    »Alles in Ordnung«, antworte ich und setze mich wieder.
    Ich atme durch, trinke einen Schluck Wasser, verschränke die Arme und fange an zu reden. Als ich fertig bin, ist die Flasche leer.
    Marco steht auf. Schweigend holt er eine neue, öffnet sie, füllt unsere Gläser, stellt sie auf den Tisch und setzt sich wieder. Sein Blick wandert durch das Zimmer und scheint einem geheimen Gedankenfaden zu folgen.
    Dann dreht er sich zu mir hin, und die Distanz zwischen uns ist wie weggeblasen.
    »Mein Vater ist in meinem Haus gestorben«, fängt er an. »Theoretisch war es natürlich noch nicht meines, aber es fühlte sich so an. Als das Hausmädchen ihn gefunden hat, war ich gerade wiedergekommen. Ich ging immer früh aus dem Haus, und an dem Morgen war ich losgegangen, um ihm die Zeitung zu kaufen. Er wollte sie stets so früh wie möglich haben. Alessandro Di Donna war ein Mann, der wenig schlief. In jeder Hinsicht.«
    Er schließt die Augen und für einen langen Moment erscheint er völlig abwesend und in Gedanken versunken. Er öffnet sie auch nicht, als er wieder zu sprechen beginnt.
    »Er hatte keine Angst. Ich glaube, er hatte nie Angst um sich. Um mich vielleicht schon. Um meine Mutter und um meine Schwester. Als er gekommen ist, wusste er nicht, dass ich in Zürich bin. Ich sollte mit einer Freundin in den Ferien sein. Wir hatten ein paar Wochen zuvor Schluss gemacht, und ich hatte ihm nichts davon gesagt. Es gab … andere Probleme. In jenen Tagen hockte er ständig in seinem Arbeitszimmer. Abends, wenn ich zu Bett ging, saß er da, und am nächsten Morgen immer noch. Eines Morgens ist er sehr früh wieder gefahren. Am späten Nachmittag kam er zurück und ging in sein Zimmer hinauf. Ich habe etwas fallen hören und bin nachsehen gegangen. Er hatte eine Vase heruntergeworfen. Aus Versehen, hieß es. Das war schwer zu glauben, denn die Scherben lagen am Fuß der gegenüberliegenden Wand.«
    Er öffnet die Augen und sieht mich an.
    »Am folgenden Morgen war er tot. Es gab keine Autopsie, keine Untersuchung, nichts. Niemand dachte an den Zwischenfall in Novara. Es war sonnenklar: Alessandro Di Donna hatte sich das Leben genommen. Das Schiff sank und er hatte beschlossen, sich aus dem Staub zu machen. Mein Vater

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