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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferruccio Pinotti , Patrick Fogli
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sagt er noch einmal. Er merkt, dass die Polizisten warten und er immer das Gleiche sagt.
    Gut, sagt er zu jemandem in seinem Kopf. Er verschwindet im Nebenzimmer, sucht die Schlüssel, zeigt sie den Polizisten, und sie verlassen das Haus.
    Eine Viertelstunde später versucht er die Tür zur Wohnung seines Sohnes zu öffnen. Dort wohnt
    wohnte er
    seit seiner Heirat. Dort lebt
    lebte er
    mit seiner Frau und seinem Sohn.
    Das Kind war ein Versehen.
    Er bleibt wartend im Eingang stehen, während die beiden Polizisten, die er nicht kennt,
    Kollegen, es sind Kollegen
    und noch andere, die später eingetroffen sind, überall herumwühlen. Dann hört er eine Stimme, weit entfernt, wie in einem Traum. Ein Satz, den er nicht versteht, aber der alles beendet.
    Es dauerte nur kurz. Zu kurz. Doch in diesem Moment weiß der Alte das nicht. Ebenso wenig weiß er, was sein Sohn ihm vor einer Woche gesagt hat oder was die hier suchen oder was er hier macht, zwischen all den Uniformen, die er nicht kennt und die Anweisungen von einem Mann bekommen, den er noch nie gesehen hat.
    »Ich bin ein Kollege Ihres Sohnes«, hat er gesagt. Ein Kollege, ein Kollege.
    »Das, was geschehen ist, tut mir sehr leid«, hat er gemeint.
    Und der Alte hat gelächelt. Ein aufrichtiges, kein höfliches Lächeln. Es hat in den Augen angefangen und sich übers ganze Gesicht verbreitet. Ein absurdes Lächeln für einen überflüssigen Satz, er weiß das, jetzt, da sie zurückgekommen sind und derselbe Mann denselben Satz sagt.
    Diesmal lächelt er nicht. Er nimmt seinen Arm, drückt ihn und flüstert:
    »Er wusste es. Mein Sohn hat es gewusst.«
     
    »Er wusste es. Mein Sohn hat es gewusst«, sagt der Alte.
    Doch haben sich der Ton und die Bedeutung dieses Satzes seit damals sehr geändert. Es ist nicht mehr der Hilfeschrei, den ein verzweifelter Mann einem uniformierten Beamten entgegenschleudert, sondern das düstere, zornige und schmerzvolle Bewusstsein, dass derselbe Uniformierte nichts tat und tun wird, um ihm zu helfen.
    Die einzige Hoffnung, herauszufinden, was seinem Sohn, seiner Schwiegertochter und seinem Enkel passiert ist, ist dieser Mann, der ihm gegenübersitzt. Derselbe, der ihm Jahre zuvor stundenlang zugehört und ihn dann mit ein paar höflichen Worten vor die Tür gesetzt hat.
    »Und die redeten von Eifersuchtstat als Tatmotiv.«
    Daniele nickt. Er fühlt sich schuldig. Weil er sich nicht angehört hat, was der Alte ihm vor Jahren sagen wollte. Und dafür, was der Staat, den er repräsentiert, diesem Menschen angetan hat. Einer von vielen, die ebenso behandelt wurden, wie er später herausbekommen hat.
    »Aus welchem Grund haben Sie Ihre Meinung geändert?«
    Die Augen des Alten sind gerötet, doch er hat nicht geweint. Die Zeit hat den Schmerz nicht gelindert, und Daniele fragt sich, ob er auch so stark geblieben wäre.
    »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Das wissen Sie.«
    Der Alte nickt und setzt sich.
    »Doch es fällt jetzt in Ihren Zuständigkeitsbereich.«
    »In gewissem Sinne.«
    Der Alte fährt sich mit der Hand übers Gesicht.
    »Sind Sie jemals in Graun gewesen?«
    Die Frage klingt völlig aus dem Zusammenhang gerissen.
    »Nein, nie.«
    »Sie sollten mal hinfahren, Dottore. Da gibt es einen Ort, an dem man Gänsehaut kriegt. Haben Sie schon mal vom Reschensee gehört?«
    »Der mit dem Glockenturm.«
    »Genau der. 1950 wurde ein Staudamm gebaut und man hat das Dorf Graun verlegt. Das alte Dorf ist überschwemmt worden, und nun schaut der Kirchturm aus dem Wasser. Ringsum liegt das Dorf. Im Winter, wenn der See zufriert, hat man es sogar unter sich. Wegen dieses Kirchturmes ist mein Sohn Taucher geworden.«
    Daniele denkt an das Foto, das er gesehen hat. Über und unter der Wasseroberfläche. Ein Geisterdorf auf dem Grund eines Sees.
    »Ich bin kein begeisterter Schwimmer.«
    »Ich schon. Das war ich schon immer. Doch ich hätte nie dem Mut gehabt, dort hinunterzutauchen. Ich glaube nicht an Gespenster und auch nicht an den Unfug, dass man angeblich in bestimmten Nächten die Kirchturmglocken läuten hört. Die wurden vor der Flutung abgenommen. Dennoch könnte ich nicht die Nase unter die Wasseroberfläche stecken und die Häuser, die Mauern und Dächer sehen, die aus dem Nichts auftauchen. Ich könnte es einfach nicht. Klingt dumm, ich weiß.«
    Er macht eine Pause.
    »In der ersten Zeit in Palermo haben sie ihn damit aufgezogen. Ein Gebirgler, der unter Wasser geht. Ein Gebirgler im Taucheranzug. Was verstehst du denn schon

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