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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferruccio Pinotti , Patrick Fogli
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davon? Dann hat er ihnen die Fotos gezeigt, die er dort unten gemacht hat. Er hat ihnen die Geschichte erzählt. Ich kann mir vorstellen, wie er geguckt hat, als sie mit der Fopperei aufgehört haben. Er hatte sehr viel Spaß an diesem Glockenturm.«
    Wieder eine Pause. Diesmal länger.
    »Zwei Wochen vor seinem Tod ist er mich besuchen gekommen. Hier, wo wir beide jetzt sitzen. Er hatte seiner Frau nichts gesagt, nur dass er einen Auftrag hätte und einen Tag wegmüsse. Das stimmte nicht, um zu kommen, hatte er extra Urlaub genommen. Er saß da, wo Sie jetzt sitzen, und versuchte zu reden. Seit einigen Wochen waren sie hinter ihm her. Ein Mann um die vierzig. Ich sehe ihn überall, sagt er. Ich tue so, als hätte ich es nicht bemerkt, doch er ist da. Ich habe meinen Sohn gefragt, wer das sei, eine saublöde Frage. Er hat mir nicht geantwortet. Er hat mich gefragt, ob ich die Nachrichten sehe, ob ich sie Ende Juni gesehen hätte. Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte, und hab’s ihm gesagt. Er hat das Thema gewechselt. Wenn mir etwas passiert, hat er gesagt, sieh in meinen Schrank. Ich habe mich nicht getraut, etwas zu erwidern. Kurz darauf ist er aufgestanden, hat mich umarmt und ist gegangen. Erst, als sie ihn erschossen haben, ist mir aufgegangen, was er meinte.«
     
    »Vittorio ist wegen des Anschlagsversuches in Addaura gestorben. Das weiß ich genauso gut wie Sie. Inzwischen. Richtig?«
    Daniele antwortet nicht.
    Er denkt an den Tag Ende Juni 1989 zurück. An das missglückte Attentat auf Giovanni Falcone und seine Gäste, zwei Schweizer Richter.
    »Vittorio war Taucher. Vittorio war dort, Dottore. Richtig?«
    Er denkt an die Tasche mit den Flossen, den Tauchermasken, der Ausrüstung, die auf dem Felsen vor der Villa lag.
    »Vittorio war dort, damit diese Bombe nicht hochging, und sie ist nicht hochgegangen. Richtig?«
    Er denkt an die Untersuchungen über Geldwäsche, über das Mafiageld, das von Sizilien über Norditalien, Südamerika und alle möglichen Off-Shore-Paradiese in die Schweiz gelangt.
    »Vittorio hat gesehen, was passiert ist, Dottore. Richtig?«
    Er denkt daran, dass man im Zusammenhang mit Addaura nur von Falcone und der Cosa Nostra spricht. Naheliegend, wenn man bedenkt, wie es gelaufen ist. Doch sobald man bei einer Geschichte eine Kleinigkeit auslässt, erzählt man eine andere. Eine neue, simplere und manchmal falsche.
    »Vittorio hat alles gesehen. Ihn auch. Richtig?«
    Daniele sieht ihn an.
    »Ihn auch?«
    Der Alte fährt sich mit der Hand durchs schüttere, wirre weiße Haar.
    »Das ist etwas, was ich nie jemandem erzählt habe. Nicht einmal meinem Sohn. Hin und wieder denke ich, ich hätte es tun sollen. Vielleicht wären die Dinge dann anders gelaufen.«
    Daniele wartet mit verschränkten Armen, der rechte Zeigefinger trommelt nervös auf den linken Oberarm.
    »Drei Tage bevor es … passiert ist, ist dieser Mann hierhergekommen. Er suchte meinen Sohn. Ich weiß nicht, weshalb er hier war. Ich habe mich das oft gefragt, und die einzige Antwort, die mir einfällt, ist, dass er mich einschüchtern wollte, falls ich etwas weiß.«
    »Wer war das?«
    Der Alte scheint sich für die Antwort zu schämen.
    »Ein Monster? Ich sollte das nicht sagen, aber … ich weiß nicht, wie ich ihn sonst beschreiben soll. Er sah aus, als hätte er einen Pilz oder irgendwelche Verbrennungen im Gesicht. Ich weiß nicht, wie ich es … Als ich ihn sah, konnte ich ihm noch nicht einmal zuhören. Und er wusste das, er hat mich angeguckt, als wollte er gleich loslachen. Dieses … dieses Gesicht werde ich niemals vergessen, Dottore. Niemals.«
    Der Alte sieht weg. Nur ganz kurz, gerade lang genug, um das vergangene Bild wegzuwischen.
    »Also«, fährt er fort, »ich hatte keine Ahnung, wer das war. Er meinte, er sei ein Kollege von Vittorio und kenne ihn gut, ich weiß nicht, ob ich ihm geglaubt habe oder nicht. Im Laufe der Jahre habe ich dann erfahren, dass andere ihn auch gesehen hatten. An jenem Tag vor Falcones Villa.«
    »Hatte er einen Akzent?«
    »Wollen Sie wissen, ob er Sizilianer war? Da war etwas in seiner Stimme. Aber selbst Vittorio hatte nach einer Weile seinen Akzent verloren. Nein, er war kein Sizilianer. Und auch kein Mafioso.« Er blickt Daniele an. »Und das wissen Sie.«
    Der Richter antwortet nicht. Wenn er es täte, würde er dem Alten zeigen, was er fühlt. Diesen Luxus kann er sich nicht erlauben. Der Hausherr steht auf und trinkt ein Glas Wasser.
    »Sonst habe ich nichts«, sagt

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