Bleiernes Schweigen
er. »Ich kann Ihnen nichts erzählen, was Sie nicht bereits wissen.«
»Wieso haben Sie das keinem Richter gesagt? Wieso haben Sie es nicht mir gesagt?«
»Hätte ich sollen? Niemand glaubte mir. Niemand, verstehen Sie. Nicht einmal Sie. Es hieß, Vittorio und Teresa seien wegen irgendeiner Betrugs- oder Eifersuchtsgeschichte gestorben. Eifersucht. Die waren unzertrennlich, verstehen Sie? Diese Frau war in meinen Sohn verliebt, sie hätte ihn niemals betrogen. Es war die Mafia, Dottore.«
Daniele ist kurz davor, ihn zu unterbrechen. Er denkt an die Unterschrift unter dem Bericht, der dieses absurde Eifersuchtsmotiv untermauert. An die Buchstaben seines wahren Namens, die Talete auf dem Papier hinterlassen hat, ein nachlässiger Schlenker, das Todesurteil für die Wahrheit.
Nein, möchte er dem Alten sagen.
Nicht die Mafia, viel schlimmer noch. Aber es wäre sinnlos.
Er steht auf und hält ihm die Hand hin.
»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Wenn Sie etwas über meinen Sohn rauskriegen, was auch immer, und sei es nur eine Kleinigkeit, lassen Sie es mich wissen.«
»Sie können sich darauf verlassen.«
Sie stehen sich gegenüber, jeder mit seinem Schuldgefühl.
»Diese Geschichte reicht sehr weit zurück, das ist offensichtlich.«
Marco Di Donna schenkt sich einen Tomatensaft ein. Mir wird fast schlecht, wenn ich daran denke, das ich dieses Zeug auch mal gemocht habe.
»Ich brauche etwas zu trinken«, hat er gesagt, ist aufgestanden und hat angefangen, in der Bar herumzukramen.
»Kennen Sie sich mit Finanzgeschäften aus?«
Er hat eine Wodkaflasche in der Hand. Er scheint unschlüssig, ob er es bei einem gewürzten Tomatensaft belassen oder eine Bloody Mary daraus machen soll. Ich zucke die Achseln. Ich denke an meine ersten Jahre als Journalist zurück, an die Post im Mailänder Justizpalast, an die Ermittlungsbescheide, die es regnete wie Konfetti an Karneval.
»Ich kenne mich mit Schmiergeldern aus«, antworte ich.
Er nickt.
»Ich auch. Und zwar aus eigener Erfahrung.«
Er öffnet die Flasche und entscheidet sich für die alkoholische Variante.
»Für mich ist es noch zu früh«, sage ich, und mir wird bewusst, dass es außerhalb unseres unterirdischen Versteckes Tag oder Nacht sein könnte.
Er setzt sich wieder aufs Sofa.
»Mal sehen, ob ich mich verständlich machen kann. Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, ist nur sehr wenigen Menschen bekannt. Ich habe sie mit der Zeit herausbekommen, habe das, was ich von meinem Vater wusste, was ich aus seinen Unterlagen erfahren und was ich selbst herausgefunden habe, zusammengefügt. Sagen wir, ich habe Alessandro Di Donnas Geld investiert, um herauszubekommen, wer ihn umgebracht hat.«
Er nippt an seinem Cocktail.
»Ab einem gewissen Punkt gibt es zwischen legaler und illegaler Macht keinen Unterschied mehr. Die beiden Welten sind derartig miteinander verfilzt, dass es schwer und oft unmöglich ist, die Grenzen auszumachen. Mein Vater hat Mafiageld über die Freimaurer gewaschen und zugleich besondere Beziehungen zur Politik und dem Vatikan gepflegt. Cosa Nostra hingegen besitzt ganze Aktienpakete von Börsenunternehmen. Geld, das vor allem aus dem Rauschgifthandel kommt, in den legalen Geldverkehr eingeschleust wird und blütenrein in die Wirtschaft dieses Landes fließt. Verstehen Sie, dass es schwer ist, den Überblick zu behalten? Ein paar Jahre vor seinem Tod sagte Giovanni Falcone einmal, man müsse aufpassen, die Mafia sei an der Börse. Wissen Sie, worauf er sich bezog?«
Ich denke an Davide Mirri, an die Semprini, die Anonima Cementi, an die Ermittlungen meines Vaters. Als ich es ihm sage, nickt er.
»Sie haben es erkannt. Die Cosa Nostra besitzt einen beträchtlichen Teil der Semprini. Die Semprini verkauft ihren chemischen Sektor an den Staat, der eine riesige Summe dafür zahlt. Und diese Summe, abzüglich der Schmiergelder, geht proportional an die Gesellschafter, an die legalen und die illegalen.«
»Der Staat finanziert die Mafia.«
»Klar, natürlich. Und wenn zum Beispiel die Anonima Cementi verkauft wird, hat der Käufer zwei Möglichkeiten. Er kann seinerseits die organisierte Kriminalität finanzieren oder die Gesellschafter übernehmen. Manchmal ist die zweite Möglichkeit sogar von Vorteil.«
Er spielt mit seinem Glas, starrt in die rote Flüssigkeit, dann hebt er den Blick, um zu sehen, ob ich ihm folge, und fährt fort.
»Diese Welt ist uralt. Die Wirtschaft, die Finanzwelt, die Industrie und die
Weitere Kostenlose Bücher