Bleiernes Schweigen
zu sehen, was sich jenseits der heimischen vier Wände abspielt, würde einem die Augen für das öffnen, was einem selbstverständlich erscheint.
Schwachsinn. Die Rückkehr von der Insel fühlte sich an wie ein aufgeschobenes Exil. Heute muss ich bei dem Gedanken lächeln, doch damals war er schmerzhaft. Seit langer Zeit schon kam es mir vor, als hätte ich nichts mehr, nicht einmal eine Wohnung, in die ich mich bei Bedarf zurückziehen konnte.
Als ich von meiner Reise wiederkam, fühlte ich mich nicht mehr sicher. Ein schwer zu beschreibendes Gefühl, das nichts mit Angst zu tun hat. Es ist weder Ungewissheit noch die Furcht, jemand könnte plötzlich hereinkommen, einem Schmerzen zufügen oder einen umbringen. Es hat eher etwas mit dem eigenen Bewusstsein, der Wahrnehmung seiner selbst und der Dinge zu tun, deren Umrisse, Ecken und dunklen Winkel man kennt.
Jene erste Stunden – die zerwühlten Koffer in einer Ecke, die heruntergelassenen Rollos, die Nacht vor dem Fenster und ein verzweifeltes, vergebliches Bedürfnis nach Schlaf – gehörten zu den ruhigsten meines Lebens. Kein Warten, kein Erwarten. Nur das Nichts und die Gewissheit, dass es sich bereits alles genommen hatte.
Der nächste Morgen hatte zur Mittagszeit begonnen. Gleich nach dem Aufwachen hatte ich meinen Vater angerufen, eine Stunde später trafen wir uns am üblichen Ort. Der Kiosk, die Zeitungen, ein Jogger, ein bellender Hund, Eltern, die ihre Kinder aus der Schule abholen. Eine Welt, die mir verzerrt erschien oder verschwommen, wie die weichgezeichnete Version einer unerträglichen Wahrheit.
Als ich Adriano das sagte, antwortete er nicht. Damals habe ich dieses Schweigen als Missbilligung gedeutet, die es zu ignorieren galt, doch heute glaube ich, dass er mein Gefühl teilte, wenn auch mit mehr Abstand und seit viel längerer Zeit, und sich für seine Ohnmacht womöglich schämte.
»Ich habe ihn wiedergesehen.«
Ganz unvermittelt ist ihm dieser Satz über die Lippen gekommen, die erste Anspielung auf die Nacht, in der ich Andrea getroffen habe. Jetzt war es an mir, nicht zu antworten. Ich schuldete ihm einige Erklärungen und eine Schilderung dessen, was ich auf der Insel erfahren hatte. Doch zunächst musste ich die Wahrheit hören. Seine.
Zumindest den Teil, den er mir zu erzählen bereit war.
»Den Mann mit der Zigarette«, hatte er gesagt. »Am Abend vor deiner Abreise habe ich ihn wiedergesehen. Wir haben über nichts Besonderes geredet. Ein bisschen über früher, aber nichts Wesentliches. Nur am Ende, als wir aus dem Restaurant gekommen sind, hat er mir gesagt, ich solle aufpassen.«
Er hatte mich flüchtig angesehen, mit halb geöffneten Lippen und abwesendem Blick, und plötzlich ging mir auf, dass er alt wurde. Zum ersten Mal hatte ich ihn so gesehen, wie er sich nicht sehen wollte. Das von den Jahren und nicht durch Weisheit weiß gewordene Haar. Der lästige Rollstuhl war nicht mehr Folge des Unfalls, sondern hatte sich plötzlich in eine riesige, unsagbare Last verwandelt, mit der zu leben er hatte lernen müssen.
Ich war ihm mit den Fingern durchs Haar gefahren, eine schon lange fällige Zärtlichkeit. Er hatte den Kopf gesenkt und ein paar Mal geschluckt. Dann hatte er die Hand ausgestreckt und meinen Arm gefasst, zuerst sacht, dann immer fester.
»Ich habe Angst gehabt«, hatte er gemurmelt. Er hatte es zweimal wiederholt und dabei vor uns ins Gras gestarrt. Ich war mir sicher, er würde gleich zu weinen anfangen, die Tränen, die er noch nicht einmal auf der Beisetzung meiner Frau vergossen hatte, würden nun endlich hervorbrechen. Doch es passierte nichts, er schaffte es nicht.
Er hatte tief Luft geholt, den Kopf gehoben und ein wenig gelächelt.
»Erzähl mal«, hatte er gesagt. Und ich hatte losgelegt. Angefangen bei dem Fußballspiel bis zu der Begegnung vor dem Strandhaus.
Er hatte stumm zugehört und mir nach einem kurzen Schweigen von seiner Suche nach Arianna erzählt. Arianna, die für alle im Urlaub war, für die Nachbarn, für den Arbeitgeber, für die Freundinnen.
»Früher oder später wird man irgendwo eine Leiche finden. Sie wird nie aus den Ferien zurückkehren, von einer fernen Liebe oder Flucht vor Schulden wird die Rede sein. Und irgendwann hat man sie vergessen.«
In seinen Worten hatte der Schmerz des Unvermeidlichen gelegen. Ein Zittern, dass ich nicht kannte und das mich beunruhigte. In der kurzen Zeit, die ich fort gewesen war, schien sich auch für ihn alles geändert zu haben, als
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