Bleiernes Schweigen
hätte die Unterhaltung mit seinem alten Informanten ihn völlig ausgelaugt.
»Wann siehst du Di Donna wieder?«
Ich hatte mit den Achseln gezuckt.
»Wenn er es will, denke ich. Vielleicht nie. Oder vielleicht sitzt er eines schönen Tages bei mir im Wohnzimmer, wenn ich nach Hause komme. Dieser Mann ist ein Rätsel, Papa.«
»Er weiß zu viel, als dass er normal sein könnte.«
»Und was er nicht weiß, kann er sich offenbar herleiten.«
»Er wird sich melden.«
Ich hatte mit einem eher verzagten als zustimmenden Nicken reagiert, doch noch im selben Moment wusste ich, dass mein Vater recht hatte. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war etwas ins Rollen geraten. Di Donna würde reden, und zwar bald.
Als ich Adriano das sagte, machte er ein beunruhigtes Gesicht.
»Das ist das eigentlich Gefährliche an der Sache. Alle wollen reden. Diese Geschichte ist wie ein Korken, den man zu lange unter Wasser gedrückt hat. Plötzlich schießt er empor. Und alle sehen ihn. Doch nicht immer ist das, was man sieht, wirklich. Nicht immer führt das, was ans Licht kommt, zur Wahrheit.«
Ich hatte ihn wortlos angesehen, überzeugt, dass er gleich aussprechen würde, was auch ich in dem Moment dachte. Er war sich mit der Hand durchs Haar gefahren, hatte den Scheitel gerichtet und weitergeredet.
»Du sagtest, das Treffen mit Di Donna hätte dich einen roten Faden erkennen lassen. Beim Zuhören habe ich versucht, ihn nachzuvollziehen, zu sehen, wo er mich hinführt, und die dünnen Stellen zu unterfüttern. Giovanni Falcone untersucht die Verflechtungen zwischen Mafia und Freimaurern hinsichtlich Geldwäscherei. Er sagt frei heraus, die Mafia würde an die Börse gehen. Er ist so dicht dran, dass man versucht, ihn in Addaura auszuschalten. Oder ihm unmissverständlich klarzumachen, dass er sich besser eine andere Spielwiese suchen sollte. Er erklärt öffentlich, hinter diesem Attentat steckten äußerst kluge Köpfe, und seine Wortwahl lässt durchblicken, dass er nicht die Cosa Nostra meint. Du und ich kennen die Geschichte der Semprinis und das Ende von Davide Mirri, der dieses Geld in der Hand gehabt hat. Benetti lässt dich wissen, dass sein Freund Patti ihn für seine Verhandlungen mit den Freimaurern nicht brauchte. Im Sommer ’92 höre ich von separatistischen Parteien, die in Süditalien wie Pilze aus dem Boden schießen, und von einem Pentito, der behauptet, die Cosa Nostra will sich selbstständig machen und den Staat übernehmen. Die Ermittlung hinsichtlich dieser Parteien wird zu den Akten gelegt, doch die Tatsachen bleiben.«
»Das Quartett wiederholt sich. Freimaurer, Finanzwirtschaft, Politik und Mafia.«
»Als Tangentopoli in vollem Gange ist, kommt Borsellino«, fährt er fort. »Er rührt an Falcones Tod, sucht, fragt, redet. Er vernimmt Ferro, er vernimmt Lamantia, gibt keine Ruhe, mischt auf. Ein paar Tage vor seinem Tod lässt er verlauten, er habe einiges zu erzählen. Er sagt es öffentlich. Und schließlich kommt das Attentat in der Via d’Amelio, das dem in Capaci in der Ausführung sehr ähnelt, aber im Hinblick auf die Menschen, die ich in diesem Mietshaus gesehen habe, und auf alles andere nur sehr wenig damit zu tun hat.«
»Zu viel Staat«, hatte ich gedankenversunken gesagt.
»Zu viel Staat«, hatte er wiederholt. »Zu viele von diesen klugen Köpfen von Addaura.«
Er nickte stumm.
»Die Welt, in der Falcone ermittelte, scheint eins zu eins Di Donnas Schilderungen entsprungen zu sein. Es ist dieselbe, auf die offenbar auch Borsellino gestoßen ist.«
»Dieselbe, die sie umgebracht hat.«
Der Satz war mir einfach herausgerutscht.
Adriano hat mich angesehen, als hätte ich seine Gedanken beim Namen genannt.
Er hatte nicht weitergeredet, als wäre es unmöglich, dieses Gespräch zu Ende zu führen. Lange saßen wir schweigend da, weit weg vom Park und dem feuchten Nachmittag, der langsam in den Abend überging.
»Woran denkst du?«
Der Satz meines Vaters drang zu mir durch, als ich gerade einem Pärchen mit einem Kinderwagen nachsah. Mit einem Nicken deutete ich zu ihnen hinüber.
»Elena und ich haben das so gut wie nie gemacht. Wenn sie jetzt hier wäre, hätte sie auf alles eine Antwort. Man bräuchte jemanden, der bei ihren Notizen durchblickt, die Querverweise und Zahlen versteht. Es gibt seitenweise Zahlen, die addiert und subtrahiert werden. Als Di Donna mir von seinem Vater erzählte, hatte ich diese Zahlen im Kopf. Ich habe mich immer wieder gefragt, ob es dabei um ein und
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