Bleiernes Schweigen
ich die Insel. Ohne Wehmut schaue ich aus dem Fenster. Gleich zu Beginn des Fluges schlafe ich ein. Ein wirrer Schlaf, den ich noch nicht einmal zum Essen unterbreche. Ich wache auf, als wir gerade über Frankreich sind.
Ich habe die Stimme meiner Tochter im Kopf. Das erscheint mir ein guter Grund, nach Hause zu kommen und weiterzumachen.
Andrea nimmt auf dem Sitz Platz und blickt sich um. Das Stadion ist menschenleer, und von einem nummerierten Tribünenplatz sieht das Spielfeld ganz anders aus, als er es in Erinnerung hatte.
»Wie lange bist du nicht mehr bei einem Spiel gewesen?«
Er dreht sich um.
Danieles Stimme vom Eingang hinter ihm. Er steht in der Tür. Das Maximum an Freiheit, das die Eskorte ihm zugesteht. Andrea erhebt sich, klappt den Jackenkragen hoch und vergräbt die Hände in den Taschen. Plötzlich ist ihm kalt.
»Seit einer Ewigkeit.«
Sie umarmen einander. Eine stille, lange Geste.
»Wieso hier?«
»Hin und wieder komme ich hier vorbei. Dann stehe ich hier, wo wir jetzt stehen, und sehe auf das Spielfeld hinunter. Völlig sinnlos, ich weiß.«
»Du könntest kommen, wenn sie spielen.«
»Machst du’s?«
Er zuckt die Achseln.
»Nein, hab ich dir doch gesagt. Inzwischen ist mir das scheißegal.«
Er zieht eine Packung Pfefferminzbonbons aus der Tasche und hält sie dem Richter hin. Daniele nimmt sich eins und lehnt sich gegen die Mauer.
»Weißt du, weshalb ich dich angerufen habe?«
»Ich kann’s mir vorstellen. Wie lange ist das jetzt her?«
»Ein paar Jahre.« Er atmet tief durch. »Ich habe beschlossen, die Straße wieder zu öffnen.«
Andrea grinst. Vor ein paar Jahren war Straße das Synonym für eine Untersuchung, die nicht genannt werden durfte. Nicht einmal an einem Werktag in einem leeren Stadion.
»Ich weiß, Daniele. Ich weiß.«
Der Richter schüttelt den Kopf.
»Bei dir ist er auch gewesen, stimmt’s?«
»Du irrst dich. Ich bin bei ihm gewesen. Vor rund einer Woche. Und ich habe ihm zu einer Luftveränderung geraten.«
»Wie lange bist du schon an dieser Sache dran?«
»Seit jemand einen V-Mann von mir kaltgemacht hat.«
»Reale?«
»Nein, Mazza.«
Daniele schüttelt den Kopf.
»Worauf seid ihr aus?«
»Willst du die Wahrheit wissen?«
»Wenn du beschlossen hast, mir zu helfen, ja. Ansonsten lade ich dich auf einen Kaffee ein und wir sehen uns in ein paar Jahren wieder.«
Andrea wendet ihm den Rücken zu, geht zur Tribüne, betritt das Spielfeld. Das Grün des Rasens, die elektronische Anzeigetafel, die farbigen Sitze, das Logo eines Telefonanbieters hinter den Toren, schräg angebracht, damit die Fernsehkameras es besser einfangen können.
Er spricht, ohne sich umzudrehen und ohne auf die Frage einzugehen.
»Was erwartest du von mir?«
Daniele stößt sich von der Mauer ab und bleibt im Eingang stehen.
»Die übliche Arbeit, in aller Stille.«
Andrea dreht sich um.
»Eine private Ermittlung?«
»Eine geheime Ermittlung.«
Er macht einen Schritt auf den Richter zu. Schweigend sehen sie sich an, Veteranen einer Schlacht, die sie nicht kämpfen wollten.
»Seit wann hattet ihr Mazza eingeschleust?«
»Ich habe nicht gesagt, dass wir ihn eingeschleust hatten. Ich hatte ihn eingeschleust.«
Daniele nickt.
»Ich brauche eine Antwort. Jetzt.«
»Wie lauten die Regeln?«
»Nie in meinem Büro, nie bei mir zu Hause, nie ein Wort zu irgendjemandem. Die Akte ist archiviert, das ist die offizielle Version.«
»Hier gefällt’s mir.«
Der Richter blickt sich um.
»Hier ist es okay.«
»Wo willst du anfangen?«
Daniele denkt nach und legt dar, was er vorhat. Andrea hört ihm zu, ohne ihn anzusehen. Die Zeit scheint mit der Wirklichkeit zu spielen. Ihr Treffen könnte Jahre zurückliegen. Die gleichen Themen, die gleichen Probleme. Die gleiche Jagd nach einer Wahrheit, die sich schon lange sehr gut versteckt. Und gegen die sie schon einmal verloren haben.
»Du willst also Ernst machen«, sagt er schließlich. Ein linkischer Versuch, um die Spannung zu mildern.
»Ich habe nie damit aufgehört. Und diesmal ist es anders.«
Andrea hätte jetzt gern eine Zigarette. Vielleicht würde er dann dahinterkommen, ob die Kälte, die er spürt, vom Wind oder von der Angst kommt.
»Diesmal ist es anders«, murmelt er. »Diesmal ist es anders.«
Und ehe er sich’s versieht, beginnt er zu erzählen.
Als ich wieder nach Hause gekommen bin, habe ich mich in meiner eigenen Wohnung wie ein Dieb gefühlt.
Es heißt, Reisen können das Leben verändern,
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