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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferruccio Pinotti , Patrick Fogli
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selbst jetzt nicht, wo Sie es mit eigenen Augen gesehen haben, Dottore. Wie hätten Sie mir da vorher glauben sollen?«
    Daniele stellt die Tasche auf den Stuhl.
    »Diese Geschichte ist …« Er beendet den Satz nicht. Worte können nicht alles ausdrücken. Sie können den Schmerz, die Wut, die Angst, den Unglauben, die Verzweiflung nicht beschreiben.
    Die Einsamkeit.
    Er wendet dem Zimmer den Rücken zu und geht zur Tür. Erst jetzt hört er den Regen. Er fällt noch immer, jenseits dieser Mauern, dieser Fenster, dieser Flure voller Wachleute. Auf den endlosen Park, auf das Dach des gepanzerten Wagens, auf die Straße zurück nach Hause.
    Die Welt ist nicht stehengeblieben. Das wird sie nie.
    Er greift nach der Klinke. Vitales Stimme lässt ihn innehalten.
    »Sie haben schon viele Geschichten gehört, stimmt’s, Dottore?«
    Der Sizilianer wartet vergeblich auf Antwort.
    »Das, was Ihnen Angst macht«, fährt er fort, »sind diese Geschichten. Sie haben sie von Polizisten, von Cosa-Nostra-Leuten, von Kronzeugen, von Ihren Richterkollegen, von Politikern, Finanzleuten, Unternehmern und Journalisten gehört. Ein riesiger Haufen Geschichten. Aber wenn Sie ihnen das zugrunde legen, was ich Ihnen gerade erzählt habe, passen sie perfekt zueinander. Jede ist an ihrem Platz.«
    Daniele dreht sich um. Ich habe keine Beweise, denkt er. Es gibt keine Beweise. Vielleicht werde ich auch keine finden. Aber braucht es die, um die Wahrheit zu kennen?
    Er öffnet die Tür. Vitales Stimme, zum letzten Mal, ehe er sie zuzieht.
    »Schlafen Sie gut, Dottore.«
    Er wünschte, er hätte sie nie gehört.
    Er grüßt nicht, antwortet nicht, sagt kein Wort. Er macht den Wachleuten ein Zeichen, geht den Flur entlang und verschwindet genauso stumm, wie er gekommen ist.
     
    Ich habe Angst.
    Das passiert mir in den letzten Wochen häufig. Angst vor dem, was ich getan habe, was ich geworden bin. Angst, nicht der zu sein, der ich sein will. Angst, zu viel erreicht zu haben, und das auf die falsche Art und Weise.
    Angst vor dem Leben.
    Angst vor M.
    Er hat mir geholfen, kein Zweifel. Wäre er nicht gewesen, wäre ich jetzt nicht hier. Doch an manchen Tagen bezweifle ich, dass ich schlechter dran gewesen wäre. Anders, das ja. Aber nicht schlechter.
    Ich hätte auf andere Weise Erfolg gehabt. Nicht so mühelos vielleicht. Nicht so schnell. Aber mein Moment wäre trotzdem gekommen. Es gibt keinen wie mich. Keinen. Nicht einmal M. kann mir das Wasser reichen.
    Er glaubt, er sei besser, könne mich kontrollieren und mich benutzen, wie es ihm passt. Doch so ist es nicht. So ist es nicht. So ist es nicht.
    Er hat auch Angst. Ich sehe es in seinen Augen, wenn er mich ansieht und glaubt, ich merke es nicht. Seine Freunde brauchen mich mehr als ihn.
    Gestern habe ich bei der Arbeit innegehalten, mein Werk betrachtet und gelacht. Doch dieser winzige Glücksmoment hat nicht gereicht. Die Angst ist einfach zu groß.
    Sie bedrohen meine Mutter. Anfangs dachte ich, sie hätte auf ihre alten Tage Wahnvorstellungen bekommen. Aber dann war ich dran.
    Sie verfolgen mich, das weiß ich. Sie behalten mich im Auge, ich sehe sie. Sie belauschen mich überall, sogar in der Wohnung, ich höre sie. Sie wollen mich kontrollieren. Sie wollen, dass ich tue, was sie sagen, M. meint, sie würden mich zu dem machen, wozu ich bestimmt sei, ich solle sie nicht fürchten, seit Ewigkeiten warte man auf einen wie mich, ich sei der Beste und es sei ganz nützlich, sie und ihren Rat hinter sich zu wissen. Ihren Schutz.
    Ich bleibe standhaft, versuche, nicht nachzugeben. Ich sage, ich will davon nichts wissen. Mit drei Worten malt er mir aus, was das bedeutet. Ich werde wütend, schreie ihn an, er streitet nie. Er schweigt. Tut so, als wäre nichts passiert.
    Er organisiert Meetings. Ich höre zu. Sie fragen mich um Rat, und ich komme ihrer Bitte nach. Doch dann wird mir klar, dass genau das Gegenteil passiert. Sie sind es, die meine Entscheidungen manipulieren. Ich zwinge mich, zu lächeln, ihnen in die Augen zu sehen und so zu tun, als sei alles bestens, als wüsste ich nicht, wer sie sind und woher sie kommen, ich bemühe mich, gute Laune zu verbreiten, im Sattel zu bleiben und Vollgas zu geben.
    Genau so drückt sich M. aus. Gib Vollgas und bleib nicht stehen. Um den Rest kümmere ich mich.
    Aber ich habe Angst und kann mich nicht dagegen wehren. Andererseits will ich auf das, was ich habe, nicht verzichten, und es ist mir scheißegal, wie ich es kriege. Und durch wen. Das ist

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