Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferruccio Pinotti , Patrick Fogli
Vom Netzwerk:
habe.
    Die Sache sieht ganz anders aus, wiederholt die Person, die Michela gegenübersitzt, und bricht in Tränen aus. Die junge Frau nimmt sie in den Arm, streichelt ihr übers Haar, unterdrückt die Tränen. Sie klammert sich an ihren Schultern fest, der letzte Halt vor dem Abgrund. Entschuldige, wispern ihre Lippen. Eine kraftlose, tonlose Stimme, die niemand hört.
    Die Sache sieht ganz anders aus, sagt meine Frau.
    Wir sind im Auto und es ist niemand da. Die Straße ist dieselbe, der Tag ist derselbe, der Anlass ist derselbe. Ich und Adriano streiten. Ein Streit, an den ich mich noch nicht einmal jetzt erinnere, wo ich ihn wieder vor mir sehe. Wir müssen noch einmal nach Palermo, sagt Elena. Und auch ihre Stimme bricht sich in der Stille.
    Das Geräusch kommt ganz plötzlich. Wasser, ein Bach, ein Fluss. Der klamme, salzige Geruch der Furcht, die einem in die geborstenen Knochen fährt. Ich kann die Augen nicht offenhalten. Ich kann mich nicht gegen den Schlaf wehren. Ich kann nicht sprechen. Ich kann nicht.
    Als ich aufwache, sind nur zehn Minuten vergangen.
    Es regnet nicht, hat es vielleicht nie.
    Ich friere wie im Winter. Ich strecke kurz die Beine aus, überzeugt, Elenas Körper zu berühren. Ziehe sie ruckartig zurück, aus Furcht, es könnte wirklich so sein.
    Daniele. Michela. Arianna. Elena. Mein Vater.
    Die Sache sieht ganz anders aus.
    Binnen eines Herzschlages wird mir klar, was geschehen ist. Und ich komme mir blöd vor, dass ich es nicht schon eher begriffen habe.
    Wenn es so gelaufen ist, war Michelas Tod Zufall. Genauso unvorhersehbar und absurd wie eine tödliche Krankheit oder ein Betrunkener, der nicht mehr geradeaus fahren kann.
    Man kriegt etwas mit, das sich nicht überhören lässt. Es macht einen neugierig und nachdenklich. Man fängt an, es zu umkreisen, die Nase in Dinge zu stecken, in die man sie nicht stecken sollte, Fragen zu stellen und sich nach jemandem umzusehen, der einem helfen könnte.
    Und schon ist man tot, noch ehe man überhaupt Angst davor bekommen kann.
    Ich hole tief Luft. Strecke die Hand nach der Lampe aus.
    Das durchdringende, unablässige Klingeln des Telefons katapultiert mich in die Wirklichkeit zurück.
     
    Arianna wartet ein paar Kilometer von meiner Wohnung entfernt auf mich, auf dem Parkplatz einer Diskothek. Als ich sie sehe, ist es halb vier Uhr morgens, und ich erkenne sie nicht. Sie trägt einen grauen Trainingsanzug, Tennisschuhe und eine schwarze Jacke, deren Kapuze ihr Gesicht verbirgt.
    Ihre Hände verraten mir, dass sie es ist. Und ihre zunächst unsicheren und dann allzu hastigen Schritte, mit denen sie wie aus dem Nichts auf mein Auto zukommt und mir ein Zeichen macht, ihr zu folgen. In einem schummrigen Winkel bleiben wir stehen, eines der zig Pärchen, die sich erst einmal beschnuppern, ehe sie den Abend gemeinsam beschließen.
    »Ich bin keine Lügnerin«, sagt sie. Es sind die ersten Worte, seit sie aufgelegt hat. Sie wollte nicht zu mir kommen.
    »Es ist besser so«, hat sie gemeint. Und unwillkürlich habe ich mich gefragt, ob sich das auf sie oder auf mich bezog.
    »Nein, du bist keine Lügnerin. Du hast dich für eine andere ausgegeben.«
    Sie sieht mich ausdruckslos an. Nicht der kleinste Funke Überraschung. Dann, plötzlich, packt sie mein Handgelenk. Ihre Hand zittert.
    »Ich muss verschwinden«, sagt sie. Es ist nur ein Wispern.
    »Wie viele von diesen Tabletten hast du genommen?«
    Sie zieht die Hand zurück.
    »Nicht eine. Und das schon eine ganze Weile nicht mehr.«
    Plötzlich blickt sie sich um. Voller Misstrauen, das auch nicht verschwindet, als sie mich wieder ansieht.
    »Ich habe versehentlich ein Telefonat mit angehört«, fängt sie wieder an. »Ich bin zur gewohnten Zeit aus dem Büro, war kurz im Fitnessstudio und nach der Dusche habe ich bemerkt, dass ich mein Telefon auf dem Schreibtisch hab liegenlassen. Also bin ich wieder zurück. Ich hab die Schlüssel, weil ich morgens oft die Erste bin. Ich bin rauf, die Tür war nur angelehnt. Es war fast neun Uhr, ich dachte, der Dottore hätte vergessen, sie zuzumachen. Normalerweise bleibt er nie so lange. Dann habe ich gesehen, dass Licht brannte, und da wurde mir klar, dass irgendwas nicht stimmte. Ich bin rein, keine Ahnung wieso. Ich hab versucht, kein Geräusch zu machen, ich dachte, vielleicht ein Dieb, vielleicht … weiß der Geier was. Auf der Hälfte des Flurs habe ich kapiert, dass es mein Chef war, der Dottore, und beruhigte mich. Ich wollte mich gerade bemerkbar

Weitere Kostenlose Bücher