Bleiernes Schweigen
jenem Abend habe ich den gesamten Ordner kopiert und mit nach Hause genommen. Es war ganz leicht, ich war immer als Erste im Büro und hatte eine gute halbe Stunde für mich allein. Ich habe eine Woche gebraucht, um alle Unterlagen zusammenzutragen, und ein Wochenende, um sie durchzulesen. Montagmorgen habe ich aufgemacht, als wäre alles wie immer. Eine Stunde später habe ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt und bin nach Hause gegangen. Ich hatte Fieber. Und das war kein Virus, das kannst du mir glauben.«
»Was stand in den Unterlagen?«
»Die Fin Art ist eine Geldwaschanlage für Montale. Ein Unternehmen Montales überweist uns eine Summe, die wir am selben Tag einem weiteren Unternehmen Montales überweisen, das es wiederum dem ersten Unternehmen gutschreibt. Das ist nur ein Beispiel, ich kann das jetzt nicht näher ausführen. Herein kommt schmutziges, gezinktes, zurückverfolgbares Geld. Und das Geld, das herauskommt, ist blitzsauber.«
»Geldwäsche.«
»Geldwäsche.«
»Montale ist ein Strohmann eines Cosa-Nostra-Bosses.«
»Pierangelo Graffeo. Und …«
Sie hält abrupt inne. Es ist derselbe Wagen von vorhin. Diesmal ist er langsamer und weiter weg, auf der Landstraße, genau auf unserer Höhe.
Arianna setzt die Kapuze auf.
»Ich muss gehen.«
Ich greife nach ihrem Arm. Einen Moment lang bin ich sicher, dass sie mir gleich die Augen auskratzt.
»Wo sind diese Unterlagen?«
Sie grinst.
»Meine Kopie ist mir geklaut worden. Ansonsten haben sie nur noch meinen Rechner und meinen Laptop mitgenommen.« Sie schüttelt den Kopf. »Und die Unterwäsche … Michela hatte auch eine Kopie. Sie sind am selben Abend bei uns eingebrochen. Wir waren zusammen weg.«
»Hast du mit ihr gesprochen, nachdem du die Unterlagen gelesen hast?«
»Bitte …«
Ich lausche der Stille. Ein Hund bellt. Dann wieder nichts.
»Wenn ich dir helfen soll, muss ich alles wissen, Arianna.«
Sie spricht sehr hastig.
»Nachdem ich die Unterlagen gelesen habe, habe ich mit Michela geredet. Und sie hat mir von Graffeo erzählt. Dann bin ich zu dieser Immobilienagentur gegangen. Sie heißt Prontocasa und ist in der Via Garibaldi. Ich hab so getan, als wollte ich mich nach was erkundigen. Zwei Tage später hat mein Chef mich gefragt, ob ich eine Wohnung kaufen wolle. Das war’s. Sie haben mir die Autoreifen aufgestochen und mich eine Woche lang mit anonymen Anrufen traktiert. Nachts musste ich das Telefon aus der Wand ziehen. Eines Morgens haben sie mich unter einem Vorwand zu einem Kunden geschickt und meinen Schreibtisch durchwühlt. Da hab ich gesagt, jetzt reicht’s, ich hör auf. Michela aber nicht. Dickköpfig wie ein Esel. Und als ihre Kanzlei ihr Reale zur Verteidigung gegeben und er ihr erzählt hat, für wen er arbeitet, hat sie begriffen, dass sie uns gelinkt haben.«
»Hat Reale ihr von Solara erzählt?«
»Ja. Aber sie hat mir weder sagen wollen, wer das ist, noch, was er ihr gesagt hat. Sie hat mich rausgehalten. Was ich dir von ihren letzten Tagen erzählt habe, ist alles wahr. Wort für Wort.«
Ich nicke.
Sie blickt sich noch immer um.
»Ich melde mich.«
Ohne die Antwort abzuwarten verlässt sie den Parkplatz und geht davon. Ich sehe ihr nach, hole tief Luft, öffne die Autotür. Arianna ist rund hundert Meter von mir entfernt auf der Zufahrt zur Landstraße.
Das Auto kommt von ganz hinten. Es überholt sie, schaltet die Scheinwerfer aus und stellt sich mitten auf der Fahrbahn quer vor sie hin.
Ich steige aus. Mache einen Schritt. Bleibe stehen.
Arianna rennt, ein Mann steigt aus, folgt ihr, kriegt sie an der Kapuze zu fassen, sie fällt, versucht zu schreien, er schlägt ihr ins Gesicht und knebelt sie. Ein Junge bemerkt es, steht neben mir. Unsere Blicke streifen sich. Wortlos geht er weiter.
Arianna dreht sich zu mir um, während sie sie auf den Rücksitz stoßen.
Egoistisch und feige steige ich in meinen Wagen. Ducke mich in den Schatten.
Die Wagentür schließt sich. Das Auto fährt ohne Licht los. Als es das Parkplatzschild passiert, wird mir übel vor Angst. Kein Zweifel, auch dieses Auto hat kein Nummernschild.
Die Ampel springt auf Grün, doch der Wagen rührt sich nicht. Schwer atmend starrt der Mann am Steuer auf die Straße, auf das Licht, das seltsame, rötlichgraue Flecken auf den Asphalt malt.
Ganz langsam lässt er die Kupplung kommen. Das Auto macht einen Satz nach vorn, der rechte Fuß hält es am Laufen, die jähe Beschleunigung lässt den Motor aufheulen. Der Mann wechselt
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