Bleiernes Schweigen
Norditalien. Und eine Investmentberatungsgesellschaft. Sie heißt Fin Art. Es gibt zwei Sitze. Einer ist hier in Florenz. Und einer bei dir. Nur ein paar hundert Meter von Michelas Kanzlei entfernt.«
»Arianna«, murmele ich.
»Arianna Lo Giudice«, vervollständigt er. »Bist du sicher, dass die Geschichte, die sie dir erzählt haben, nicht eines anderen Blickwinkels bedarf?
Ich antworte nicht. Greife nach dem Handy. Wähle Ariannas Nummer, das Telefon ist abgeschaltet, ich hinterlasse eine Nachricht auf der Mailbox mit der Bitte, mich möglichst bald zurückzurufen.
»Da ist noch etwas, Daniele.«
Ich muss einen anderen Ton angeschlagen haben, denn sein Gesichtsausdruck ändert sich abrupt.
»Deswegen bist du eigentlich hier, stimmt’s?«
Diesmal entscheide ich mich für die Wahrheit.
»Ja. Aber als ich dich angerufen habe, wusste ich es noch nicht.«
Er nickt und wartet. Kurz darauf hält er die CD-Rom mit Elenas Unterlagen in der Hand.
»Vor ihrem Tod war sie an einer Sache dran. Ich hab’s erst vor wenigen Tagen erfahren.«
»Allein?«
»Nicht mit mir.«
Er nickt. Steckt die CD in die Tasche und stützt die Ellenbogen auf den Tisch.
»Worum geht’s?«
»Genau das würde ich gern wissen. Sagen wir mal, es ist dein Gebiet.«
»Red nicht um den heißen Brei.«
»Borsellino. Patti. Curatolo. Die Attentate.«
Das einzige Zeichen von Unruhe ist ein etwas tieferer Atemzug.
»Ich schau’s mir an.« Er scheint damit zu rechnen, dass es noch etwas hinzuzufügen gibt. Schließlich steht er auf. Er lächelt nicht.
»Diesmal sehen wir uns bald wieder«, sagt er und legt mir eine Hand auf die Schulter.
Grußlos geht er davon. Ich bleibe sitzen. Greife wieder zum Telefon.
Arianna hat weder zurückgerufen noch geschrieben. Ich versuche es noch einmal. Zweimal. Dreimal. Hinterlasse eine weitere Nachricht. Ich komme mir lächerlich vor.
Mit dem Telefon in der Hand gehe ich zum Tresen.
»Der Dottore hat alles gezahlt«, sagt der Barmann. Ich suche nach einer Replik, lächle kurz.
Ohne ein Wort verlasse ich die Bar.
Als ich die Augen öffne, ist es nach drei Uhr und draußen regnet es. Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, aber mir ist, als wäre ich vorher schon einmal aufgewacht, durch das hektische Prasseln der Tropfen gegen das Fenster.
Vielleicht habe ich geträumt. Vielleicht habe ich nie wirklich geschlafen und nur die Zeit vorbeiziehen lassen, zusammen mit dem wirren, fernen Echo von Danieles Worten. Ich muss mit Arianna sprechen. Während der Zugfahrt zurück habe ich noch viermal versucht, sie zu erreichen. Und jeder Versuch ist an der Stimme ihrer Mailbox gescheitert.
Hier ist Arianna, Sie können mir eine Nachricht hinterlassen.
»Sag mir, wo du bist«, flüstere ich.
In die Decken gehüllt drehe ich mich zur Seite. Meine Stimme erschreckt mich. Die Nacht erschreckt mich. Der Regen, die Vergangenheit, Ariannas Abwesenheit erschrecken mich. Das halbe Schweigen meines Vaters, der selbst beim Erzählen etwas verbirgt. Der Dinge auslässt, auch wenn er beschließt, sich zu erinnern. Ich frage mich, was er von mir erwartet, wie ich dieses Spiel, dessen Regeln ich nicht kenne, seiner Meinung nach spielen soll.
Ich schließe die Augen.
Eine ganze Weile lang versuche ich nachzurechnen, wie viel Uhr es gerade in New York ist. Ich versuche mir vorzustellen, was Giulia in diesem Moment tut, ob sie gerade nach Hause gekommen ist, ob es warm oder kalt ist, ob ihre Küchenwände weiß oder farbig sind. Dann, in einer merkwürdigen Verkettung von Bildern, sehe ich Michela vor mir.
Sie ist in einem Raum, den ich noch nie zuvor gesehen habe, und sitzt auf einem Sofa, das ich niemals sehen werde. Sie redet mit einer Person, die mir den Rücken zuwendet, und wirkt nervös. Zwischen den Sätzen beißt sie sich auf die Unterlippe. Wenn sie zuhört, knibbelt sie an der Nagelhaut eines Fingers herum.
Ich sehe sie an wie durch eine Glasscheibe, als säße sie in einem Goldfischglas, das die Geräusche dämpft und mich nicht hören lässt, was gesprochen wird. Sie sieht aus, als würde sie jeden Moment zu weinen anfangen. Oder als würde sich die Nervosität in Angst und dann in Grauen verwandeln. Ohne mich um die andere Person zu kümmern, beobachte ich sie und mustere eindringlich ihr Gesicht. Warte.
Irgendetwas stimmt nicht.
Die Sache sieht ganz anders aus.
Danieles Worte brechen die Stille meines Tagtraumes.
Doch es ist nicht er, der sie sagt. Es ist nicht seine Stimme, die ich im Ohr
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