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Bleiernes Schweigen

Bleiernes Schweigen

Titel: Bleiernes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferruccio Pinotti , Patrick Fogli
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dabei kein Wort, die Zeit wird gleichgültig. Nur die Gegenwart bleibt und lebt ihren einzigen Moment.
    Doch diese Nacht stellt er keine Kaffeemaschine auf den Herd. Die Welt soll ihn in Frieden lassen, wenigstens noch ein paar Stunden.
    Er öffnet die Augen. Die Nacht ist nicht schwarz. Sie ist blau, dunkelblau. Die Silhouetten des Zimmers sind keine stummen Tiere. Nur ein Schrank, ein Computer, zwei Kommoden, ein Doppelbett, in dem seit allzu langer Zeit ein Platz leer ist.
    Er steht auf. Durchquert diese farbig transparente Luft, öffnet den Schrank, sucht die Decke, legt sich wieder hin.
    Er versucht, die Farben der Dinge zu benennen. Die des Schranks, das Metallgrau des Laptops, das Schwarz der Kommode.
    Ich bin blind. Bin es immer gewesen. Blind aus mangelndem Mut, weil ich mich nie getraut habe, das Licht anzumachen. Blind aus Selbstverstümmelung und aus Selbsterhaltungstrieb. Aus Einsamkeit.
    Die einzige Möglichkeit, im Dunkeln zu sehen, ist die geistige Vervollständigung. Man fixiert die bekannten Punkte, die Ecken, die das Licht erkennen lässt, die Reflexe, die eine Form verraten. Anhand winziger Details konstruiert man den Raum und versucht, ein Bild zusammenzusetzen.
    Ohne das Licht anzumachen. Nicht einen Augenblick. Bis man sicher ist, es geschafft zu haben.
    Seit Jahren versucht er das, und jede Nacht erinnert ihn das Halbdunkel im Schlafzimmer daran, dass seine Arbeit keinen Zweck hat. Er hat immer gehofft, es sei nicht wahr. Wahrheiten kann man aufdecken, Geheimnisse sind nur solange welche, wie jemand sie bewahrt.
    Dann sind diese Papiere gekommen. Und jetzt ist er sicher, dass er nur noch diesem dünnen Lichtstrahl folgen kann, der scheinbar grundlos aus der Vergangenheit herüber scheint.
    Darin sind Formen, Bilder, Farben. Manche sind klar umrissen, manche nur angedeutet.
    Ganz gleich. Er wird der Straße folgen, und das auf seine Art. Noch ein Schweigen, das sich zu denen gesellt, die sein Leben bereits füllen.
    Entweder so, denkt er kurz vor dem Einschlafen, oder kapitulieren. Und diesmal für immer.
     
    Nach zwölf Stunden Flug und zwei Zwischenstopps erreiche ich die Insel.
    Ich habe keine Ahnung, welcher Tag oder wie viel Uhr es ist oder wie viel Zeit zwischen dem Beginn meines Fluges und diesem Moment vergangen ist, in dem ich mich wie ein Mehlsack aufs Hotelbett fallen lasse, mit vom Duschen erfrischter Haut und dem verzweifelten Bedürfnis, mir die Welt möglichst vom Leib zu halten.
    Das Einzige, woran ich denken kann, ist, dass ich einen Haufen Geld ausgebe und schlafen muss. Die Situation bessert sich unwesentlich, als ich Stunden später an einem allzu blendend hellen Morgen aufwache. Ich öffne das Fenster, trete auf den Balkon hinaus, lehne mich auf die Brüstung und blicke über den Ozean. Ich denke an das blasse, müde Gesicht des Polizisten, bei dem ich am Morgen meiner Abreise Anzeige wegen Diebstahls erstattet habe.
    Und gelogen habe.
    »Ein Laptop fehlt«, habe ich gesagt. »Ich muss vergessen haben, richtig abzuschließen«, habe ich noch hinzugefügt, falls jemand kontrollieren sollte, wie der vermeintliche Dieb durch die Sicherheitstür gekommen ist.
    Die Mitteilung, dass ich auf dem Weg in den Urlaub sei, hat das Lügen-Trio vervollständigt. Der bleiche Polizist hat mich nicht gefragt, wohin ich führe. Ein Glück.
    Wenn ich daran denke, wo ich jetzt bin, schäme ich mich ein bisschen, ohne zu wissen warum.
    Ich kehre ins Zimmer zurück, das halb so groß ist wie meine gesamte Wohnung. Ich packe die Koffer aus, schließe den Laptop an und gönne mir noch eine Dusche. Ich begreife, dass die Zeitverschiebung sechs Stunden beträgt, dass ich eine Ewigkeit geschlafen habe und dass es noch sehr früh am Morgen ist.
    Ich gehe hinunter, frühstücke unter einem kolonialen Laubengang mit Blick auf einen der Hotelpools. Das Meer ist keine zwanzig Meter entfernt. Für einen mir endlos erscheinenden Moment starre ich durch meine Sonnenbrille aufs Wasser. Ich gehe am Strand spazieren, lasse mir von dem Mann an der Rezeption erklären, wo ich ein Auto mieten kann, setze mich an den Rand des Pools und schaue mir die Umgebung an. Ich esse Thunfisch und Garnelen, die so gut wie nichts kosten, und nehme abends einen Drink in einer der Kneipen der Stadt.
    Der eigentliche Grund, weshalb ich hier bin.
    Das Lokal heißt Desiderata, der Chef ist ein untersetzter Kerl, der aussieht, als hätte er die Sonnenbräune geerbt. Er stammt aus Lucca, ist vor fünfzehn Jahren hierhergekommen und

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