Der Kofferträger (German Edition)
1 Selbstmord eines Gehängten
„Frau Hubert“, stieß er atemlos in sein Handy, „furchtbar, scheußlich. In der Wohnung ... da, da hängt eine Leiche.“
Idiotisch , wie albern das klingt, durchfuhr ihn der nächste Gedanke, weil er wusste, wie cool die Chefsekretärin auf diese Banalität reagieren würde.
D ie erste Dame im Sekretariat des Bundeskanzlers, eine Frau im gesetzten Alter, würde nie ihre Contenance verlieren. Noch nicht einmal wegen einer Leiche in der Partei eigenen Wohnung.
„Bleiben Sie unten vor der Tür stehen. Ich schicke Ihnen die Polizei und einen Arzt“, antwortete sie kühl.
Schütz griff nach einer Zigarette, um seine flatternden Hände zu beruhigen. Schon nach wenigen Minuten trafen die Polizisten ein. Widerwillig und mit zitternden Beinen schritt ihnen Schütz voran, bis zum dritten Stock und legte die Hand auf die Klinke. Aus dem Treppenhaus war das Gemurmel von Nachbarn zu vernehmen: „Ich wusste doch, da stimmt was nicht“, tuschelte eine alte Frau. „Das riecht seit einiger Zeit so widerlich“, sagte eine andere. Einer der beiden Polizisten schob die Leute mit ausgebreiteten Armen zurück.
„Bleiben Sie bitte draußen, hier gibt es nichts zu sehen.“
Mürrisch nahm der zweite Polizist Schütz die Klinke aus der Hand und öffnete die Glastür. Der Anblick und der ätzende Gestank trafen die Beamten ebenso unerwartet wie noch einige Augenblicke zuvor Schütz. Alle schleuderten spontan ihre Armbeuge vor die Nase. Hunderte von Fliegen hatten sich auf die Leiche gestürzt. Der Tote baumelte schon länger als vierzehn Tage an dem Strick, wie der Arzt feststellte. Ein Anblick, dem sich Schütz durch Flucht entziehen wollte. Der Polizist in der Tür packte ihn am Arm und hielt ihn auf.
„Herr Schütz, wir brauchen noch ihre Angaben. Kennen Sie die Person?“
In dem verzerrten Gesicht des Erhängten hatte sich eine fließende Masse über die Knochen geschoben. Leere Augenhöhlen, hängende Wangen und das herunter gerutschte Kinn spotteten jeder Frage nach Identifizierung. Dennoch meinte Schütz, den seit zwei Wochen vermissten Buchhalter der Schatzmeisterei zu erkennen. Wegen der dunklen Hornbrille hatte er sich manche Hänselei gefallen lassen müssen, jetzt hing sie ihm als markantes Merkmal auf den Ohren und dem offen liegenden Nasenbein. Um das Gestell wanden sich Würmer und Maden.
„Mein Gott, Klingenberg“, stieß Schütz entsetzt aus.
„Kennen Sie den Mann“, fragte der Polizist noch einmal. „Können Sie ihn identifizieren?“
„Ja, es ist Klingenberg, unser Buchhalter. Er wird seit vierzehn Tagen vermisst. Eine Anzeige muss bei der Polizei vorliegen“, Schütz hatte sich sein Hemd aus der Hose gerissen und hielt es vor die Nase.
„Wir lassen alles unberührt“, stellte die Polizei im Beamtenton fest, „erst die Spurensicherung.“
Im Polizeifahrzeug nahmen sie die Details auf. Die Spezialisten waren inzwischen eingetroffen. Mit Koffern und Instrumenten machten sie sich an die Arbeit. Schütz erlebte die Geschehnisse wie in Trance. Er musste noch einmal mit den Experten zum Tatort zurück.
„Was macht dieser Aktenkoffer aus Aluminium unter dem Leichnam?“, fragte er sich, „er steht auf dem Boden, als hätte Klingenberg ihn in Ruhe abgestellt, bevor er sich erhängte.“
„Leer“, sagte der Beamte, der den Koffer mit Gummihandschuhen geöffnet hatte, „einfach leer.“
Klingenberg war nicht so etwas wie ein Freund gewesen, aber ein guter Bekannter. Eben der Buchhalter aus der Schatzmeisterei. Einer, von dem man sagte, das Korrekte sei ihm noch nicht gut genug. Vor zwei Wochen hatte es eine Auseinandersetzung gegeben, wegen Unstimmigkeiten. Worum es gegangen war, entzog sich seiner Kenntnis. Klingenberg war seitdem vermisst und seine Familie in großer Sorge.
Die Beamten überzeugten Schütz, Klingenbergs Frau zu benachrichtigen. „Es sollte zwar unsere Aufgabe sein, ein Freund oder guter Bekannter kann das Unglück aber leichter überbringen“, meinte der Beamte. Weil auch Jürgen es für seine Pflicht hielt, die Frau des Toten zu informieren, machte er sich auf den Weg.
I n der Waldenser Straße, Berlin-Moabit, besaßen die Klingenbergs seit ein paar Jahren eine Eigentumswohnung. Zu Fuß nur etwa zehn Minuten bis dorthin. Wieder griff Schütz zur Zigarette und in Sekundenschnelle verführte ihn der Rauch zu einer oberflächlichen Betrachtung des Erlebten. Er schüttelte den kurzen Traum von Wahrheit und Erkenntnis ab und
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