Bleiernes Schweigen
bist du besoffen oder verzweifelt oder der gerissenste Mensch, den ich je in meinem Leben getroffen habe.«
Ich glaube ihm keine Sekunde. Ich sehe zu, wie er das Glas leert. Es ist zwei Uhr morgens.
»Morgen fahre ich«, höre ich mich sagen. »Und jetzt gehe ich ins Bett.«
Ich komme nicht aus dem Stuhl. Seine Antwort nagelt mich fest, wischt den Alkoholdunst, die Müdigkeit, die Wut und die Trauer weg.
»Du kannst fahren, wann du willst«, sagt er. »Aber vorher muss ich dir noch eine Geschichte erzählen.«
»Die einzigen Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden, sind die wahren, und wenn du meine nicht erzählen konntest, dann nicht, weil du nicht dazu fähig bist, sondern weil sie sich nicht erzählen lässt.«
Javier Cercas, La velocidad de la luz
Dies ist die Geschichte eines Mannes, den niemand sucht und niemand kennt. Es ist die Geschichte eines Mannes, den viele gesucht und gekannt haben. Es ist die Geschichte, die er mir erzählt hat, seine Version. Eine Geschichte, die vor vielen Jahren beginnt, vor zu vielen, als dass sich ein genauer Anfang festmachen ließe, und vor zu wenigen, um sie zu ignorieren. Er holt sie in einer heißen, windstillen Nacht heraus, leicht betrunken, am Rande eines Pools.
Eine Geschichte, in der es nur wenige, aber präzise Fixpunkte gibt. Angefangen bei dem, mit dem er beginnt.
Er sagt es, als gäbe er mir einen Restauranttipp. Er achtet noch nicht einmal darauf, ob vielleicht jemand neben uns in der Nacht sitzt. Er macht den Mund auf und der Satz kommt ganz von selbst heraus.
»Ich heiße Patrizio Benetti und bin ein Mörder.
Hier kennt man mich als Pietro Bernini, wenigstens die Initialen versuche ich immer beizubehalten. Das ist praktisch, wenn man was signieren muss. Ich war schon Pierre Bernhein, Peter Bishop, Patrizio Bignami. Oder Bruno Petrini, Bernardo Pais. Ich kann ein paar Sprachen, ein paar Dialekte, es macht mir Spaß, dem Leben einen anderen Aufzug zu verpassen. Als junger Mann hieß ich Fregoli. Einmal habe ich es geschafft, mich selbst zu betrügen, indem ich das Mädchen, mit dem ich zusammen war, unter falschem Namen ins Bett gelockt hatte. Das war lustig. Am Ende habe ich sie beschuldigt, mich betrogen zu haben, sie hat alles zugegeben und ich habe sie verlassen.
Ich war es leid, das passiert manchmal.
Zwei Jahre später hat das Leben es mir heimgezahlt. Die Frau, die ich liebte – diesmal wirklich –, hat mich mit einem guten Bekannten betrogen. Ich habe ihn vor seiner Haustür abgepasst und ihm in den Kopf geschossen. Das ganze Magazin.
Ich war jung und noch sehr aufbrausend. Wutanfälle sind eine wichtige Schule. Der Knast auch. Man kann sowieso viel vom Leben lernen. Vorausgesetzt, man ist sich bewusst, dass man lebt.
Am Tag meiner Flucht hätte man mich als Faschisten bezeichnet. Ein Fascho, und hätte man einen von der Gegenseite gefragt, ein Roter. Ich hab mir nie gern einen Stempel aufdrücken lassen.
Ich komme aus der Toskana, gleich hinter der Grenze zur Emilia. Und als ich schieße, haben wir das Jahr 1975. Ich verschwinde eine Weile nach Südamerika. Du denkst bestimmt, ich bin bei irgendwelchen Kameraden untergeschlüpft, und das stimmt. Ein Anführer der Avanguardia Nazionale hat mich außer Landes gebracht. Damals hatte er schon zwei Staatsstreiche hinter sich. Aber frag mich bitte nichts, ich hab keine Ahnung. Wie ich ihn kennengelernt habe? Auch davon weiß ich nichts. Du meinst, der steckte mit dem Geheimdienst unter einer Decke? Kann sein, aber ich weiß nicht, mit wem. Und denk ja nicht, ich hätte in Südamerika irgendeiner Todesschwadron angehört. In Chile oder in Bolivien oder so. Sonst bin ich echt beleidigt.«
Ich unterbreche ihn.
»Wenn das die Geschichte ist, die du mir erzählen musst, dann kann ich auch schlafen gehen. Heldensagen haben mich noch nie interessiert. Ich stehe mehr auf Urteile.«
»Touché.«
»Und auch für fremde Dialekte hab ich nicht viel übrig.«
Einen Moment lang bin ich sicher, dass er einfach aufsteht und geht. Doch er tut nichts. Er sieht weg und schließt die Augen. Als er sie wieder öffnet, sucht sein Blick das Meer. Schwarz, unsichtbar, nah.
»Es ist fast alles richtig«, sagt er. Er sitzt leicht von mir abgewandt, als wollte er mir nicht ins Gesicht sehen. Plötzlich ballt er die Fäuste. Es hat nichts Bedrohliches, sondern wirkt eher wie der Versuch, etwas zu verdauen, was er noch nicht einmal sich selbst eingestehen kann.
Sofort öffnet er sie wieder,
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