Bleischwer
Beinen stehen sollten und allein oder in
einer Wohngemeinschaft lebten. Jan priorisierte den zweiten Teil des Jobs.
Dahin floss seine ganze Energie. Die Bürotätigkeiten erledigte er mit leichter
Hand. Jule beneidete ihn. Sie selbst hatte nur eine Halbtagsstelle in der
Verwaltung und empfand die Arbeit oft als zäh und langweilig.
Mit Jan
zog ein frischer Wind durch die verstaubten Räume. Sein herzliches Lachen,
seine Frotzeleien und sein Kaffeevollautomat, den er von zu Hause mitgebracht
hatte und dem ganzen Kollegium zur Verfügung stellte, belebten und erfrischten.
Jan Westermann war zehn Jahre älter als Jule und das sah man auch. Aber seine
Quirligkeit und die geistige Beweglichkeit machten vieles wett und ließen ihn
jünger wirken. Mit seiner überlangen Nase, den unschuldig blickenden braunen
Augen, den weichen Lippen und dem schlaksigen Körper erinnerte er Jule an eine
Giraffe. Und wie eine Giraffe schien er alles zu sehen und mitzukriegen. Nichts
entging seinem sanften, schelmischen Blick.
Jule
verstand schnell, warum seine Klienten sofort Vertrauen fassten und sich
wertgeschätzt fühlten: Jan Westermanns Menschenbild war von Grund auf positiv.
Er glaubte an das Gute im Menschen, das Böse war für ihn immer Zeichen einer
Beschädigung, Alarmsignal für etwas Zerstörtes oder Gescheitertes. Er war
felsenfest davon überzeugt, dass man den Betreffenden nur behutsam aufrichten
müsse, dann verschwinde alles Übel von allein.
Bald
machte er in Jule ihre mühsam vergrabene Schuld aus und sagte ihr dies auf den
Kopf zu. »Du bist nicht wirklich frei. Irgendwas umklammert deine Seele.«
Natürlich
wehrte Jule sofort ab, fühlte sich jedoch seit seiner Einschätzung zu Jan
hingezogen. Bald gingen sie zusammen aus. Erst waren es lockerleichte Treffen
im Anschluss an die Arbeit im ›Kaffee Küppers‹ am Münsterplatz oder im
›Okiedokie‹ am Neusser Hafen. Andere Male gingen sie zusammen in das kleine,
aber feine Programmkino ›Hitch‹ über den Dächern der Stadt. Hier hielt Jan zum
ersten Mal ihre Hand, und Jule ließ es zu. So begann der Verrat an Jörg.
Sachte, kameradschaftlich und doch mit aller Macht.
Schnell
geriet Jule im Alltag ins Schleudern. Wie, wann und wo sollte sie zwischen
Ehemann und Teenagersohn die heimlichen Treffen mit Jan arrangieren?
Schließlich erfand sie die Teilnahme an einem VHS-Yoga-Kurs und traf Jan jeden
Mittwochabend in seiner Altbauwohnung auf der Neusser Furth. Eine Weile gelang
es ihr, die Affäre vom Rest ihres Lebens abzuspalten. Die Mittwochabende waren
geprägt von Loslassen und Leidenschaft, alle anderen sechs Tage bestanden aus
Muttersein, Routine und Pflichten.
Jörg
merkte nichts.
Im
Oktober wurde sie schwanger. Der Schock ließ sie im Chaos versinken. Sie
zweifelte nicht daran, dass das Kind von Jan war. Mit beiden Männern hatte sie
ungeschützten Verkehr gehabt. Neun Jahre Sex mit Jörg hatten sie davon
überzeugt, aufgrund ihres Alters mittlerweile unfruchtbar geworden zu sein. Nun
begriff sie, dass es nicht an ihr gelegen hatte.
Mit der
Schwangerschaft begann der Zank zwischen Jan und ihr. Er erwartete, dass sie
sich von ihrem Mann trennte; Jule erwog eine Abtreibung. Sie fing an, sich
trotz des Kindes im Bauch unvernünftig und kindisch aufzuführen. Trank Wein und
Sekt, hungerte, anstatt regelmäßig zu essen, nahm mehrere Kilos ab. Jan machte
ihr Vorhaltungen und drängte darauf, dass sie Jörg endlich die Wahrheit sagte.
Sie tat es nicht, sondern steckte in ›Vogel Strauß‹-Manier den Kopf in den
Sand. Eines Mittwochabends im November – sie
befanden sich auf dem Rückweg von einem chinesischen Restaurant in
Korschenbroich-Pesch, Jule fuhr Jans Auto – stritten sie sich heftig. Die Straße war glatt und Jan hatte auf seinem alten
Peugeot noch keine Winterreifen aufziehen lassen. Weil Jule des Öfteren zur
Seite sah, um Jan Auge in Auge ihre wütenden Antworten entgegen zu schleudern,
unterschätzte sie die leichte Rechtskurve auf der dunklen, baumgesäumten
Landstraße. Der Wagen geriet ins Schleudern, knallte gegen eines der
Baumgerippe. Erst kamen der Schreck, der Krach und die Airbags, dann kam das
Schweigen.
Jule
musste für drei Wochen ins Krankenhaus. Eine Rehamaßnahme folgte. Bei dem
Aufprall hatte sie sich einen Lendenwirbel angebrochen und erlitt eine
Fehlgeburt. Jan trug lediglich eine Unterarmfraktur davon. Sie mied den Kontakt
und hatte ihn seitdem nicht gesehen.
Vor
Jörg, der sie sofort nach dem Unfall in der Düsseldorfer
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