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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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fallen ließ. Ich werde nie vergessen, wie der rote Überzug aus Erdbeergelee eine scheußliche Lache im Schnee an der Hofmauer bildete. Als hätte man dort jemanden erschossen.
    Ein Polizist, der das Tor bewachte, packte mich am Arm und zog mich hinein. Diese Berührung, sie war irgendwie primitiv und zugleich hilflos. Sie hatte etwas von der Art, wie einen ein schüchterner Vergewaltiger behandelt. Gierig und zugleich voller Angst. Ich sah die Männer, die mit amtlicher Miene in allen Hofecken und Ställen herumstöberten, und ich sah meine Eltern, wie ich sie noch nie gesehen hatte. So hilflos, so erniedrigt. Sie wirkten auf mich wie Tote, die man in der Anatomie hin und her schob. Kein Ausdruck im Gesicht meines Vaters. Das Gesicht ganz starr. Der Mund so schmal über verzweifelten Worten zusammengepreßt.«
    Sie begann heftig zu schluchzen, wie ihr Sohn vorhin. Ohne Kontrolle, wie ein kleines Kind. Der Stuhl, auf dem sie saß, knarrte zu den heftigen Bewegungen ihres alten Körpers. Ich hielt sie am Arm, hoffte, daß es ihr Kraft gab.
    »Sie haben sie mitgenommen, beide. Weil sie zehn Paar Arbeitshandschuhe gefunden hatten. Das galt als verbotene Warenhortung, ein Wirtschaftsverbrechen, auf das Zuchthaus stand. Der Staatsanwalt war dabei und hat noch in der Nacht ihre Verhaftung angeordnet. Später haben sie acht Jahre bekommen. Erst vier, dann, nach der Berufung, wurde die Strafe verdoppelt. Das war so üblich zur Abschreckung. Wer gegen eine Strafe protestiert, der liebt seinen Richter nicht, und auch das mußte bestraft werden.
    Alles nahm man ihnen ab, das Geld, den Hof, die Sparbücher und, fast am schlimmsten, die Erinnerungen. All die Pappschachteln mit vergilbten Fotos, den Seidenschal, den meine Mutter bei der Verlobung getragen hatte, das Brautkleid. Nur die Kleider, die sie am Leib trugen, durften sie behalten. Der Hof gehörte jetzt der LPG, und der Jungknecht wurde sein Verwalter. Er hatte uns denunziert, aber beweisbar war das natürlich nicht. Es war nur logisch. Das Denunzieren war die Form der Menschenliebe, die die Bewohner dieses Staates zusammenhielt. Meine Eltern haben es nicht überlebt. Sie wurden nach vier Jahren amnestiert, aber sie waren gebrochene Menschen. Meine Mutter starb vier Monate nach der Entlassung, gerade sechzig Jahre alt. Mein Vater starb als Invalide vier Jahre später im Altersheim, er war erst sechsundsechzig. Ich glaube, er hat sich umgebracht, auch wenn ich das nicht beweisen kann. Er hat nie mehr darüber geredet, wenn ich ihn besuchte. Er hat nur so eine merkwürdige Art gehabt, einen anzusehen, als sei man verrückt geworden und als habe er Mitleid mit einem.«
    »Was geschah mit Ihnen damals?«
    »Sie fuhren mich mit dem Auto um drei Uhr morgens weg und ließen mich irgendwo auf die Straße. Ich ging zu Fuß zu meiner Tante und klingelte sie aus dem Bett. ›Hat euch der Kuchen geschmeckt?‹ war ihre erste Frage. Und dann: ›Wo kommst du denn jetzt her, um diese Zeit?‹ Ich habe so heulen müssen, daß es lange dauerte, bis sie verstanden hat, was geschehen war. Aber richtig verstehen kann man es nicht. Niemand kann so was verstehen, wegen ein paar Handschuhen zwei Menschen, die sich geliebt haben, voneinander zu trennen, ihnen alles zu nehmen, was ihr Leben war.«
    »Und Sie? Was haben Sie später gemacht?«
    »Was schon. Das Übliche natürlich. Ich habe geheiratet. Einen lieben Mann übrigens. Er hat nicht viel Freude an mir gehabt. Ich hatte immer Angst, vor jeder Autoansammlung bekam ich Panik. Ich habe zu trinken angefangen, hatte einen Sohn, um den ich mich kaum kümmerte. Er lebt immer noch hier, aber wir sehen uns fast nie. Mein Sohn ist nichts geworden. Ein liebenswerter Taugenichts. Mein Mann war bei der Reichsbahn. Er starb vor sieben Jahren. Er hat mir nicht viel hinterlassen. Dieses Häuschen und ein Paddelboot. Einen alten Puch-Zweier. Sein ganzer Stolz. Er war Sportpaddler in seiner Freizeit. Immer wenn wir viel Wasser im Fluß hatten, war er dort. Bei jeder Kälte. Es war ihm egal. Nur die Eskimorolle wagte er nicht, weil das Wasser zuviel Gifte enthielt. Jetzt ist es besser geworden, seitdem die Fabriken geschlossen sind. Jetzt würde er auch die Eskimorolle machen. Er sagte immer: ›Irgendeine Form von Fluchtfahrzeug muß man doch haben.‹«
    »Warum hatte er einen Zweier? Das ist doch ungünstig für Wildwasserfahren.«
    »Er hoffte immer, daß ich eines Tages mit ihm fahren würde. Er hatte übrigens eine Spritzdecke und kam damit ganz gut

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