Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
Vom Netzwerk:
weiß ich sehr wohl, daß sie zuweilen die Verhältnisse reguliert, daß sie ein Ventil sein kann, daß sie auch Ordnung zu schaffen in der Lage ist, daß sie Fronten klärt. Aber für mich ist physische Gewalt immer ein Rätsel gewesen, das sich meiner Beurteilung entzieht wie die Rückseite des Mondes. Wenn ich mit ihr konfrontiert bin, verhalte ich mich wie Rumpelstilzchen, jenes urdeutsche Märchenwesen, das mir immer besonders gefallen hat. Es tanzt bei den Versen »Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß« vergnügt ums Feuer. Doch als sein Name dann fällt, rammt es vor Wut seinen rechten Fuß in den Boden, packt den linken und reißt sich mitten entzwei. Schöner kann man Schizophrenie nicht darstellen. Diese Angst vor der Identität, diese Katastrophe, bei sich selbst ertappt zu werden! Vielleicht gab es hier mehr Rumpelstilzchen als anderswo.
    Dick ging auf den Betrunkenen zu. Seine Fäuste waren geballt und pendelten in Hüfthöhe. Eine brachiale Auseinandersetzung schien unvermeidlich. Der Betrunkene fing wieder an zu grölen, irgendein Lied, unartikuliert, verzerrt, ein Höllengesang aus einer vergessenen Zeit, der plötzlich wieder aus dunklen Tiefen hervorquoll. »Ich bin ein Emigrant«, schrie Dick. »Auf den Deutschling!« Er zwirbelte die hochgebogenen Spitzen der weißen Serviette unter seiner Nase.
    »Zahlen!« rief ich. Ich hatte instinktiv das rettende Wort gefunden. Der Wirt hörte auf, Gläser zu putzen. Er eilte beflissen herbei, zückte eine überdimensionale Lederbörse, murmelte eine Zahl. Ich drückte ihm zwei Geldscheine in die Hand, einen Betrag, der weit über der verlangten Summe lag. »Der Rest ist für Sie«, sagte ich. Nun kam eine unerwartete Beweglichkeit in den Wirt. Er packte den Betrunkenen an der Brust und schob ihn zurück ins Nebenzimmer. Ich aber nahm Dick die Serviette ab und zog ihn hinter mir her zum Ausgang. Er folgte mir brav wie ein Kind.
    Schweigend gingen wir zum Parkplatz zurück. Wir standen eine Weile unschlüssig vor dem Auto. »Meinst du, man kommt diesen Fluß da draußen hinunter bis nach Sumatra?« sagte Dick schließlich. »Verrückte Vorstellung, daß dieses armselige Gewässer irgendwo ins Meer fließt und sein Wasser über eine endlose Kette von Tropfen mit der Küste Sumatras in Verbindung steht.«
    »Du solltest deinen Traum verwirklichen, Dick.«
    Er sah mich fast belustigt an. »Es war nett von dir, Piet, so schnell zu kommen. Wirklich, du handelst wie ein echter Freund. Aber jetzt bitte ich dich vor allem um eines: fahr wieder weg. Vertue deine Zeit hier nicht, es hat doch keinen Zweck. Du hast eben wieder gesehen, daß es hier nur Verrückte gibt. Zuviel für einen ehemaligen Psychiater. Ich komme schon allein zurecht.«
    »Gut, Dick, ich gehe jetzt. Aber ich weiß noch nicht, was ich machen werde.«
    »Ich danke dir, Piet. Du bist mein Gast. Du sollst deine Auslagen zurückhaben.« Er fingerte sein Portemonnaie heraus.
    »Laß nur, Dick«, sagte ich. »Dir geht es finanziell schlechter als mir.«
    Er stieg ein und ließ den Motor an. Ich sah sein Gesicht durch die vereiste Scheibe, über die jetzt seine Hand mit dem Kratzer fuhr, als wolle er mir winken, ohne es zuzugeben. Auch ich winkte, ehe ich mich umdrehte und davonging.
    In dieser Stadt schien ewige Dämmerung zu herrschen. Schwaden von Rauch verdunkelten die Sonne. Ich ging an den Villen entlang, die ich vom Park aus gesehen hatte. Sie waren in schlechtem Zustand, überall Risse, abblätternde Farben, verblichene Vorhänge. Ich hatte kein bestimmtes Ziel. Jetzt mußte mir die Nemesis helfen.
    Die Straße machte einen leichten Bogen. Eine der Haustüren war angelehnt. Der schwarze Spalt zog meinen Blick an, und ich glaubte zu sehen, daß sich dort etwas bewegte, etwas Helles, ein Stück Stoff, ein Kleid vielleicht. Als ich auf der Höhe der Tür war, schloß sie sich langsam. Dieses Mißtrauen der Leute hier, dachte ich. Diese Spitzelatmosphäre. Die Straße mündete auf einen großen Platz, wohl der Markt. Auch hier einige Weihnachtsbuden, ein paar Glühbirnenketten, ein Tannenbaum. Ich suchte nach einem Hotel, denn ich war entschlossen, wenigstens noch bis zum anderen Morgen zu bleiben. Ich hatte das Gefühl, daß Dicks plötzliche Abneigung gegen mein Einmischen, die so gar nicht zu seinem Hilferuf paßte, bereits zur Entwicklung des Falles gehörte.
    Und Ines? An sie dachte ich gerne. Und so konnte ich meine Freude nicht verhehlen, als ich sie plötzlich vor

Weitere Kostenlose Bücher