Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
Zigaretten in verschiedensten Stellungen, im Mund, in der Hand, im Aschenbecher, am Tischrand.
Nur eines war nicht stilgerecht: alle tranken Bier. Ich war der einzige, der einen Kaffee trinken wollte, und ich erhielt ihn nach ziemlich langer Wartezeit von einem älteren Kerl in abgewetzter Lederjacke, der aussah, als wollte er Nietzsche in Sachen Lebenslust Konkurrenz machen. Er hatte den gleichen stechend-lebensmüden Blick. Nur sein Bart war anders. Er strebte nicht auf-, sondern abwärts in zwei schwarzen Zapfen, die ihm fast bis auf die Brust reichten.
Ich hatte mich abseits an einen kleinen Tisch gesetzt und lauschte den Stimmen, die sich halblaut vom Summen eines Ventilators abhoben. Es war, als wollte man die Falten eines Vorhangs analysieren, um das dahinter verborgene Theaterstück zu begreifen. Sprachen sie über Kunst oder über Sex? Es war nicht auszumachen. Der Kaffee schmeckte bitter. Die Tasse war schwarz und bodenlos.
Dann schwenkte das Gespräch zum Ereignis des Abends, einer Dichterlesung. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, daß einer der Tischgenossen der Dichter war. Ihm hätte ich es dem Äußeren nach am wenigsten zugetraut. Er sah grau und mickrig aus, wie ein von Erfahrungsmangel dauerhaft präparierter Sperling. Immer wenn er sprach, schien er sich ein wenig aufzuplustern. Seine Brust, die von einem fadenscheinig braungrau gemusterten Pullover mit V-Ausschnitt bedeckt war, wölbte sich vor, und seine Stimme zwitscherte in hohen Tönen. Wie die anderen hatte er diesen viele Konsonanten gummiartig verzerrenden Dialekt der Gegend.
Neben ihm saß ein mittelgroßer Mensch, der nach landläufigen Begriffen gut aussah. Kein Gramm Fett zuviel am Körper, aufrechte, fast militärisch korrekte Haltung. Auffällige Augen, weit auseinanderstehend und wasserklar, der Blick flackernd, wie man so treffend sagt. Eine hohe Stirn, hervortretende Backenknochen, ein wohlgeformter Mund, den ein rotblondes Menjoubärtchen zierte, rotblonde, leicht gewellte Haare. Er war der einzige, der Hochdeutsch sprach, und das sehr klar und sauber artikuliert. »Willst du nicht anfangen?« sagte er. »Ich glaube, es kommen keine mehr.«
Sein Blick streifte mich. Der Spatz erhob sich, setzte sich an einen Tisch mit Leselampe und begann zu tschilpen. Obwohl ich die ganze Zeit über an Ines dachte, begann mich die Geschichte, die er vorlas, mehr und mehr zu interessieren. Es war eine Geschichte vom Warten. Sie war ungewöhnlich, klar und knapp erzählt, und sie spielte in meiner Heimat.
Es ging um Warten. Um einen Menschen, der das Warten nicht gelernt hat und nun zum erstenmal in seinem Leben dazu gezwungen ist. Eine solche Situation versteinert den Menschen. Er spricht nicht mehr, er scheint auf seine Hände zu starren, aber in Wahrheit sieht er sie nicht, er sieht nur seinen eigenen Kopf. Etwas Verrücktes, das sich der Vorstellungskraft entzieht. Ein Kopf, der sich selber betrachtet. Eine Art umgestülpte Maske, durch die vierte Dimension gegen sich selbst gedreht.
Der letzte deutsche Kaiser. Er sitzt in einem kahlen Wartesaal auf einem Stuhl und wartet, ohne auch nur das geringste Talent zu dieser Kunst zu haben. Es ist Sonntag, der 10. November 1918, früher Morgen, ein kalter, nebliger Tag in Eijsden an der Grenze auf holländischem Boden. Der Kaiser ist kein Kaiser mehr. Er hat abgedankt am Ende eines verlorenen Krieges. Die Insignien an der Karosserie seines Wagens sind entfernt, seine Uniform ist abgelegt, er trägt Zivil, aber seine Seele ist die alte. Und diese Seele ist immer noch die eines ungeduldigen, verwahrlosten Kindes, das nicht warten kann, nicht auf Weihnachten, nicht auf den Ausbruch eines Krieges, nicht auf sein Ende. Eine rastlose, liebebedürftige Seele, die nur Augenblicke zur Kenntnis nimmt, aber nicht warten kann.
Vielleicht wurde schon beim Stillen des kleinen Wilhelm etwas falsch gemacht, er soll damals heftig gebrüllt haben, auch wenn die pralle Brustwarze der Amme nur noch wenige Millimeter von seinen Lippen entfernt war.
Jetzt sitzt der Exkaiser auf einem Stuhl in einem kahlen, schlecht beheizten Raum und wartet. Nicht einmal Tee wird ihm angeboten. Die holländische Regierung ist über sein Kommen informiert, aber sie läßt ihn warten, Stunde um Stunde, die offizielle Gewährung des Asyls wird erst gegen Mitternacht eintreffen, und da Wilhelm es nicht versteht zu warten, da ihn dieser seltsame Zustand vollkommen verwirrt, bietet er den Anblick eines versteinerten Häufchens
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