Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
es mich wenig angenehm. Es lag etwas Theatralisches darin. Als wolle er sein Elend demonstrieren. Er erinnerte an einen gealterten Clown, dem keine echte Trauer mehr gelingt, weil er sie zu oft vorgetäuscht hat. Ich roch den Genever. Er mußte bereits einiges getrunken haben. Die Nässe blieb in den scharfen Falten unter seinen Augen. Er wischte sie nicht ab. Unbeholfen streichelte ich seine Schulter, aber er schüttelte meine kreisende Hand mit einer unwilligen Bewegung ab. Dann sprach er endlich.
»Ich bin am Ende, Piet. Wenn du mir wirklich helfen willst, besorg mir Zyankali. Der Apotheker hier hat bestimmt was. Du kommst leichter ran, weil dich hier keiner kennt.«
»Red nicht solchen Unsinn, Dick. Wie alt bist du jetzt?«
Er lachte. »Fünfundvierzig. Ganze fünfundvierzig sinnlose, leere Jahre. Ein paar Weiber, ein bißchen Billard, alberne Träume und einen Haufen Schulden. Das reicht doch wohl, oder?« In einer heftigen Bewegung riß er den Affen vom Rückspiegel ab, dann stieß er die Tür auf und warf ihn in den Fluß. Ich sah, wie das kleine, rotbraune Ding kurz in einem Strudel kreiste, ehe es mit der Hauptströmung davonschwamm.
Die Kälte hier unten am Fluß war noch schärfer als in den Straßen. Das Wasser war klar und schäumte an weißen Eisrändern vorbei. »Der Fluß ist der einzige, dem es hier besser geht nach der Wende«, sagte Dick. »Vorher war er klinisch tot. Seit die Webereien und Färbereien stillgelegt wurden, gibt es sogar wieder Fische in ihm, aber es gibt auch 65 Prozent Arbeitslosigkeit. Entweder die Menschen oder die Fische. Es ist wie mit Schein und Sein.«
Wir gingen am Flußufer entlang zu einer Brücke. Dabei nahm ich zum erstenmal wahr, wie extrem die Kessellage der Stadt war. Eine Tunnelröhre mit Eisenbahnschienen führte hinein und eine wieder hinaus. Dann war da noch der Fluß mit parallel laufender Straße, der ein enges Tal gegraben hatte, über das der Fernverkehr die Stadt erreichte und wieder verließ. Ringsherum bedeckten Häuser die steilen Wände des Kessels wie Besucher in einem Amphitheater. Und auf einer Felsspitze, die ein Stück in das Tal hineinragte, lag ein mächtiges Schloß. Es erinnerte mit seinen sechs gezackten Giebeln an einen versteinerten Drachen. Viele seiner Fenster waren immer noch erleuchtet, obwohl es Tag war, aber was für ein Tag! Man ahnte den blauen Himmel nur, denn der Kessel war voll mit Qualm und Rauch aus zahllosen Schloten und Auspuffen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Bloß wieder weg hier, dachte ich. Dick schien meine Gedanken gelesen zu haben, denn er drehte sich nach mir um und sagte: »Nettes kleines Drecksnest, sei froh, wenn du noch die Kraft hast, es zu verlassen.«
Dann ging er voran, mit ausholenden Schritten, die die Vermutung, er habe bereits alle Kraft eingebüßt, Lügen straften.
Er bog in die Straße ein, die über die Brücke führte und unterhalb des Schlosses in einen weitläufigen Park einmündete. »Wir leben hier auf einer Art Insel«, sagte Dick. »Nur ist es eine umgestülpte Insel sozusagen, sie ragt nicht aus dem Meer, sondern sie gleicht einer durch Strudel erzeugten Vertiefung im Wattboden.«
Wollte er mit diesem Vergleich einem Landsmann gegenüber die Heimat beschwören? Ich ertappte mich dabei, daß ich ihn wie einen Patienten zu beobachten begann, die kleinsten Details seiner Ausdrucksformen, seiner Bewegungen und Mimik diagnostisch zu bewerten versuchte.
»Der Park ist schön«, sagte ich. »Großzügig angelegt.« Dick nickte. »Ja, der alte Fürst hat ihn anlegen lassen. Zuerst war er noch ziemlich klein, mit einem Tümpel in der Mitte, ein paar exotischen Bäumen drum herum und einem kleinen Gartenhaus. Dann hat der Sohn einen größeren Park in der Stadt anlegen lassen, und der Vater mußte ihn wieder übertrumpfen. Es gab ein ständiges Kräftemessen zwischen beiden, zwischen Sein und Schein.« Er lachte, als er meinen fragenden Gesichtsausdruck sah.
»Sie waren wie Kinder, die es nicht lassen können, sich im Sandkasten mit Schaufel und Förmchen zu übertrumpfen. Deshalb haben wir zwei Schlösser. Und dieser See ist zuletzt so groß geworden, daß Schwäne einen Kompaß brauchen, um sich zu orientieren.« Dick lachte noch einmal. Es klang gequält.
»Der Vater ist immer das Sein und der Sohn der Schein, das mußt du doch als Psychologe am besten wissen. Und die Mutter ist das Theater, wo Schein und Sein auftreten in einem jämmerlichen Stück, das
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