Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
rostige Heizungsrohre, abblätternde Farbe, auch hier Schimmel und ausgedehnte Reliefs von wattigem Salpeter.
Die Dimensionen waren imponierend. Meterdicke Mauern, Säulen, Tonnengewölbe. Ich ging die breite, ausgetretene Treppe hoch. Auf jedem Absatz Namensschilder an abgestoßenen Sperrholztüren mit Guckloch.
Derbachers Name fand ich im fünften Stock. Neben dem Klingelknopf hatte er ein kleines Gemälde auf den Türrahmen gemalt. Eine winzige Waldlichtung im Mondschein.
Ich klingelte und lauschte. Keine Schritte. Ich bückte mich und sah den Schlüssel stecken, also mußte jemand in der Wohnung sein. »Heinz«, rief ich. »Ich bin es, Piet! Mach auf. Du brauchst keine Angst haben.«
Meine Stimme hallte durchs Treppenhaus. Dann wieder Stille. Nur ein leises, surrendes Geräusch von irgendwoher.
Ich gab es auf. Als ich wieder draußen war, blickte ich zu den Fenstern hoch, die zu seiner Wohnung gehören mußten. An einem von ihnen drehte sich ein Windrädchen.
Der Schnee im Hof war sauberer als der in der Stadt. Er bildete eine geschlossene Decke. Nur meine Stapfen und die des Buckligen waren zu sehen. Direkt unterhalb des Giebels, in dem der Maler wohnte, begann ich, Buchstaben in den Schnee zu treten. Meinen Namen.
An einer Mauer waren Holzscheite aufgeschichtet. In einem Hackklotz steckte ein riesiger Spalthammer. In der Nähe erblickte ich eine junge Frau. Sie war hübsch, sehr blond und schick. Der Kontrast zur Umgebung konnte nicht größer sein.
Sie trug einen Blechkasten voller flockiger, hellbrauner Asche, die bei jedem ihrer Schritte ein wenig stäubte, was sie dazu veranlaßte, immer wieder stehenzubleiben und sich die Kleidung abzuklopfen.
Ich holte sie ein und sprach sie an: »Ich habe eine große Bitte. Ich schreibe für eine westdeutsche Zeitung. Über die Wohnverhältnisse hier. Wäre es möglich, einen kurzen Blick in Ihre Wohnung zu werfen?«
Sie beschleunigte ihre Schritte, und die Asche stäubte über ihre Hände. »Ich wohne nicht hier. Ich bin nur zu Besuch bei meinen Eltern.«
Ich gab nicht auf. »Würden Sie bitte Ihre Eltern fragen, ob ich morgen vormittag vorbeikommen dürfte?« Ihr Blick streifte mich. Der Argwohn, der in ihm lag, war nicht zu verkennen. Vielleicht war Eis unter der Schneedecke. Sie rutschte aus und ließ den Kasten fallen. Eine Wolke von gelben Ascheflocken hüllte uns ein. Hustend stand ich da und rieb mir die Augen. Als ich wieder einigermaßen sehen konnte, war das Mädchen verschwunden.
In einer Ecke des Hofes ging eine Tür auf. Der Bucklige erschien mit zwei Schäferhunden an der Doppelleine, die laut zu kläffen begannen, als sie mich gesehen hatten. Immer wieder bäumten sie sich in den Leinen hoch, und ihre Hinterläufe warfen den Schnee auf. Es hatte schon etwas von einer kopflosen Flucht an sich, wie ich das Gelände verließ, rutschend, um mein Gleichgewicht kämpfend. Im Schatten des äußeren Torbogens sah ich die verschleierte Frau. Ich stellte mir den Spott in ihren Augen vor, mit dem sie meinen ungeordneten Rückzug verfolgte.
Im Hotel erwartete mich eine kleine Überraschung.
»Wir müssen Sie leider umquartieren«, sagte die Wirtin. »Ich habe Ihnen ein schöneres Zimmer gegeben. Es liegt nach vorne hinaus und hat einen Fernseher.« Nach meinem Eindruck war das Hotel, das über dreißig Gästezimmer besaß, so gut wie leer.
Allmählich dämmerte mir, daß ich mich mitten in dem befand, was man Fahndung nennt. Es ist ein seltsamer Zustand, in dem man seine Empfindlichkeit für Kleinigkeiten, für Banalitäten, Belanglosigkeiten so extrem erhöht, daß einem die großen Zusammenhänge oft entgehen. Zwar dachte ich an Dick und Ines, wollte sie suchen, mit ihnen reden, aber es war ein abstrakter Gedanke, wie der an ein moralisches Prinzip. Eigentlich interessierte mich jetzt nur noch das Dickicht aus Nebensächlichkeiten, in dem ich mich auf der Pirsch nach einem Geheimnis befand, dessen Umrisse ich noch nicht einmal ahnte.
Mein Hauptausbilder bei der Groninger Mordkommission hatte mir immer wieder eingeschärft, im Fahndungsfall in ein Höchstmaß an Unauffälligkeit zu schlüpfen, um der Empfindlichkeit für die Nebengeräusche eines Falles die richtigen persönlichen Voraussetzungen zu verschaffen. »Sei die Realität, und sie wird dir ihre Geheimnisse offenbaren«, war sein Lieblingsspruch.
Der Versuch, mich als Einheimischer auszugeben, würde schon an meinem Akzent scheitern. Aber es gab eine andere Möglichkeit, meinem Fremdsein
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