Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
langen Zug absetzte, wurde gelacht. Ich bemerkte, daß alle am Tisch ein anderes Bier tranken, eine bekannte westdeutsche Marke. Der Autor der Wartegeschichte klärte mich auf.
»Man hat vor einigen Monaten eine Leiche im Tiefbrunnen unserer Brauerei gefunden. Sie haben den Brunnen gespült, aber wir mögen trotzdem kein einheimisches Bier mehr.«
Er lachte wie über einen guten Witz. Auch die anderen lachten wieder. Es war keine angenehme Stimmung.
Ich ließ mein Bier stehen, zahlte und ging. Immer noch fiel Schnee. Es war so dunkel, daß man die Flocken nicht sah, aber ich spürte sie im Gesicht wie einen Insektenschwarm. Die Dunkelheit war allgegenwärtig. Kaum Straßenlaternen, kaum Ampeln. Auch die meisten der Schaufenster waren nicht erleuchtet. Durch die engen Gassen mit den rutschigen Kopfsteinen und den viel zu schmalen Bürgersteigen rasten hin und wieder Fahrzeuge.
Ich hätte schnell die Orientierung verloren, wäre da nicht dieses Sternbild am Himmel gewesen, das immer wieder zwischen den Häusergiebeln zu sehen war, wobei zuweilen einer seiner Sterne erlosch oder ein anderer aufglühte wie eine Supernova. Die Fenster des Oberen Schlosses.
Mir war klar, daß ich mich zuallererst um eine Übernachtungsmöglichkeit kümmern mußte. Es war schon reichlich spät. Aus meiner Heimatstadt Groningen bin ich es gewöhnt, daß man zu jeder Tages- und Nachtzeit in die meisten Hotels vordringen kann. Bei geschlossener Rezeption gibt es meistens die Möglichkeit, über das Labyrinth der Feuerleitern und irgendein offenes Fenster hineinzukommen und einen Nachtportier ausfindig zu machen. Wie anders es hier war, sollte ich schnell erfahren.
Es gab nur wenig Leute auf der Straße. Um jemanden anzusprechen, mußte ich rennen wie ein Karnickeljäger. Das Problem war, daß die Menschen meinen Annäherungsversuchen geschickt auswichen. Wenn sie mich kommen sahen, schlüpften sie schnell in irgendeinen Torbogen, einen Hauseingang, eine Seitengasse. Schließlich gelang es mir doch, jemanden zu stellen, einen älteren Mann. Er trug einen schweren schwarzen Mantel mit hochgeklappten Revers und eine Russenmütze. Alles, was ich von seinem Gesicht wahrnahm, waren große Brillengläser, in denen sich fern und klein die Fensterkonstellation des Schlosses über uns spiegelte.
»Wo gibt es hier ein Hotel?« fragte ich hastig, denn ich fürchtete, er würde sich gleich in eine schwankende Rauchsäule auflösen.
»Es gibt zwei«, sagte er mit einer erstaunlich klaren und deutlichen Stimme, die von einem professionellen Sprecher hätte sein können. »Eines am Bahnhof und eines am Marktplatz.«
Ich bedankte mich und sah ihm nach, wie er mit sehr aufrechtem Gang um die nächste Ecke verschwand. Dabei konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß ich ihm schon einmal begegnet war.
Zum Bahnhof, dachte ich. Das ist ideal. Ein Ort, von dem aus ich schnell verschwinden konnte.
Der Bahnhof lag auf der anderen Seite des Flusses. Es gab nur eine Brücke. Ich orientierte mich an meinem Sternbild über der Stadt. Das Schloß lag auf einem Felsen über der großen Flußschleife.
Ich rannte, denn wenn ich den Maler noch besuchen wollte, wurde es höchste Zeit. Durch einen Torbogen sah ich endlich Wasser. Es sah wie Tinte aus. Keine Reflexe, die seine Strömung verrieten.
Rutschend bewegte ich mich am Ufer entlang. Meine Hände, meine Kleidung waren lehmverschmiert. Am schlimmsten war der Gestank. Fäulnis und Öl, Fäkalien und Chemie, Schimmel, alte Kleider, Verwesung. Die Bögen einer Brücke tauchten auf. Ich kletterte auf allen vieren die Böschung hoch und querte den Fluß.
Nun ging alles leicht. Es gab sogar ein Schild mit dem Hinweis »Bahnhof«. Auch das Hotel hatte ich schnell gefunden. Ein dunkler, riesiger Kasten mit dem Namen »Schloßhotel« in erloschenen Leuchtbuchstaben. Fenster wie zahllose Dominosteine ohne Augen, alles schwarz, nirgendwo Licht. An der Glastür des Eingangs ein Zettel: »Wegen Umbau seit November geschlossen. Wiedereröffnung in einem Jahr.« Es war nicht auszumachen, um welchen November es sich handelte. Gut möglich, daß sich eine seltsame Art von Ewigkeit in den leeren Betten dieses Baues eingemietet hatte.
Ich drückte auf den Klingelknopf neben der Tür. Dann legte ich ein Ohr an die Glasscheibe und lauschte. War da nicht ein ferner Klang, so etwas wie ein Lied, das eine Frauenstimme sang? Ich hatte nach den Ereignissen dieses Tages keinen besonderen Grund, meinen Sinnen noch zu trauen.
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