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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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die Elysischen Felder, Grazien, rosig dralle Nacktheiten, tanzende Jugend, die Schamlosigkeit einer vergangenen Kultur der Feinschmecker, reizende junge Venezianerinnen, nicht älter als siebzehn, mit schmachtenden Blicken hingelagert, bereit, Wollust zu geben und zu nehmen, die schmalen Hände auf die Scham gelegt, wie um die brennende Süßigkeit der Begierde abzukühlen.
    Davor, an einem langen, weißgedeckten Tisch, zahllose verfallene Körper, die sich leicht wiegten wie Kornhalme, hin und her, vor und zurück, leere, stupide Gesichter, die das Alter von allen Gedanken und Gefühlen freigeräumt hatte, farblose Augen, Münder, die wie aufgemalt wirkten auf dünnwandiges Porzellan.
    Es war der Hades der Alten, der Schattenwesen, die die Erinnerung an sich selbst verloren hatten, die vor einem kalten Feuer wie Scherenschnitte vorbeizogen und mit ihren Erinnerungen jene bonbonfarbenen Jugendvisionen an die Wände projizierten. Alle hatten sie irgendwann einmal auf Wiesen gelegen, hatten Lust empfunden und mit klopfendem Herzen genossen. Jetzt waren da nur noch diese fast gewichtlosen Puppen, die der Schmetterling des Lebens verlassen hatte.
    Die Orgel war neu, und sie war sicherlich im Kaufhaus der Stadt erstanden worden. Ein junges, sehr dürres Mädchen spielte sie. Der künstliche Transistorklang erhöhte die Absurdität des Momentes. Daneben stand ein Mann in schäbigem Smoking, alt auch er, doch noch nicht ganz zur Mumie geworden. Seine Augen wirkten wie runde Scheiben, aus einem dunstigen Sommerhimmel gestanzt, seine Wangen waren von einem roten Netz geplatzter Äderchen geschminkt.
    Er sang. Die Stimme mußte einst schön gewesen sein, man hörte immer noch den warmen, geschulten Ton heraus, aber nun fehlten ihr die Kraft und die Konstanz, der Atem. Ich bekam eine Gänsehaut, als ich die mir inzwischen so vertrauten Verse hörte:
    Der Reif hatt’ einen weißen Schein
Mir übers Haar gestreuet;
Da glaubt’ ich schon, ein Greis zu sein,
Und hab’ mich sehr gefreuet.
     
    Doch bald ist er hinweggetaut,
Hab’ wieder schwarze Haare,
Daß mir’s vor meiner Jugend graut -
Wie weit noch bis zur Bahre!
     
    Vom Abendrot zum Morgenlicht
Ward mancher Kopf zum Greise.
Wer glaubt’s? Und meiner ward es nicht
Auf dieser ganzen Reise!
    Die Orgelmusik zerrann in einer Mollphrase, der Sänger verneigte sich. Doktor Vielbrunn begann laut zu klatschen. Seine Mitarbeiterin ließ sich mitreißen, auch die Aufpasser klatschten zögernd. Nur die Alten reagierten nicht. Sie starrten auf den großen Suppentopf, der in der Mitte des Tisches stand. Freßgier war die letzte Botschaft, die das Leben in ihnen hinterlassen hatte.
    Eva begann, die Teller mit einer großen Kelle nacheinander zu füllen. Niemand fing an zu essen. Der Grund war einfach, man teilte die Löffel erst aus, als die Suppe in allen Tellern war.
    Nun hub ein Schmatzen und Grunzen und Schlürfen an wie in einem Viehstall. Die Löffel klapperten unentwegt. Die Münder verschmiert, die Kleidung, die Tischdecke bekleckert, so leerten sie die Teller mit der Energie unstillbaren Hungers, der übrigbleibt, wenn nur der Bauch noch zu füllen ist.
    Nach höchstens zehn Minuten war es vorbei. Doktor Vielbrunn saß am Kopf der langen Tafel und hatte sich die ganze Prozedur angesehen. Nun erhob er sich und trat neben die Orgel. Das dürre Mädchen nahm auf dem Klavierschemel Platz und spielte die Introduktion. Dann begann seine Stimme den Saal zu füllen.
    Er sang herrlich. Nicht perfekt. Wie ein begabter Amateur. Aber genau dies tat dem Lied erstaunlich gut. So überzeugend hatte ich es noch nie gehört.
    Am Brunnen vor dem Tore,
da steht ein Lindenbaum...
    Ja, man konnte ihn rauschen hören, man konnte den billigen Klang der Orgel vergessen, die unangenehme Leibesfülle des Interpreten, die stupiden Gesichter der Zuhörer, die nichts zu hören schienen. Während des ganzen Liedes hatte ich das eigenartige Gefühl, in ihm zu sein wie in einem grünen Sommermärchen. Ich träumte wirklich im Schatten des Baumes, ich schnitt wirklich manch süßes Wort in seine Rinde. »Ines, ich liebe dich.« Ich war verliebt, und ich dachte an meine Geliebte, während ich die Zweige rauschen hörte: »Komm her zu mir, Geselle, hier findst du deine Ruh’.«
    Dann änderte sich das Wetter. Es wurde kalt, und ein eisiger Wind begann zu blasen. Mein Hut wurde mir vom Kopf gerissen, aber ich wandte mich nicht ab. Ich starrte wie gebannt auf die Szene. Als Doktor Vielbrunn geendet und die

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