Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
umschlang.
Achtes Kapitel
S chläfti war wirklich ein seltsamer Vogel. So wie er mittags vor dem Hotel stand, in hautenger schwarzer Lederkluft, die Motorradbrille auf, die langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ich fragte mich, ob er »Easy Rider« gesehen hatte.
»Du siehst verdammt gut aus«, sagte ich.
»Es ist aus praktischen Gründen«, sagte er. »Man kommt besser durch die engen Stellen. Außerdem muß mich nicht jeder erkennen.«
Jeder, dem wir begegneten, rief so etwas wie: »Na, Schläfti, wie in alten Zeiten, was?« Mit seinem Inkognito schien es nicht weit her zu sein.
Wir gingen zum Fluß. »Kannst du Motorrad fahren?« fragte mein Freund.
»Ich habe als Schüler frisierte Mopeds gefahren«, sagte ich.
»Das wird reichen, wir wollen nicht allzuweit.«
Das Motorrad auf dem Parkplatz sah schlimm aus, verrostet, verbeult, schlammverkrustet. »Eine bewährte tschechische Maschine«, sagte Schläfti. »Nicht gerade ein Chopper, aber bei jedem Wetter gleich gut, außer bei schönem, da stottert sie leicht.«
Auf dem Tank war ein blauer, sehr perfekt gemalter Totenschädel, aus dem ein Straßenband quoll, das sich in einer roten Wüstenebene verlor.
»Der Rahmen ist seit dem Unfall leicht verzogen, du darfst nicht schneller als achtzig fahren«, sagte Schläfti.
Auf dem Gepäckträger waren zwei gelbe Bauhelme angeschnallt.
Ich trat den Anlasser. Zu meiner Verblüffung sprang der Motor sofort an. Ich schwang mich auf den Sattel, Schläfti kroch hinter mich. Seine Arme schlossen sich vor meiner Brust.
Als sich die blaue, stinkende Wolke um uns gelegt hatte, wies Schläfti mit dem Arm an mir vorbei. »Fahr dort lang, aus der Stadt raus.«
Wir fuhren. Die Federung der Maschine war extrem hart. Sie zog leicht nach links beim Bremsen. Aber insgesamt vermittelte sie ein solides Gefühl von Beweglichkeit.
Es ging an Dicks Wohnung vorbei. Die Rolläden waren heruntergelassen. Dann lagen die letzten Häuser hinter uns. »Und nun rein in den Wald«, sagte Schläfti hinter mir. »Du mußt in den ersten Gang runter.«
Wir bogen in einen steilen Waldweg ein. Der Boden war an der Oberfläche aufgetaut und rutschig. Mehrmals brachen die Räder aus, und wir mußten uns mit den Beinen abstützen.
»Bei dem Höllenlärm, den wir machen, weiß doch jeder, wo wir sind«, sagte ich.
»Es gibt genügend Leute, die mit der Kettensäge in den Wald gehen.«
»Am ersten Weihnachtsfeiertag?«
»Fahr«, sagte Schläfti. »Wir wollen den Eindruck erwecken, daß wir den Ort verlassen.«
Schließlich waren wir oben. Ein mit Schotter befestigter Waldarbeiterweg führte den Kamm entlang. Wir fuhren eine Weile, dann zeigte Schläftis Arm nach rechts. »Jetzt dort runter.«
Es ging ziemlich steil hinab. Dann hörte der Wald auf. Wir standen am Rand eines Abgrunds, eine hellgraue Wüste von Schutt tief unter uns.
»Volz hat die Stelle entdeckt«, sagte Schläfti.
»Volz?«
»Der Koch vom Altersheim. Er ist Hobbygeologe. Er hat hier nach Fossilien gegraben und etwas anderes dabei entdeckt. Komm.«
Wir kletterten den Abhang hinunter. Immer wieder lösten sich Brocken von Gestein.
»Es ist Muschelkalk. Hier war mal ein großes Meer. Stell dir vor, ein Meer voller Muscheln, Fische, Wellen, Seetang, Nixen. Heinz war oft hier. Er sagte immer, er wolle dieses Meer malen, so wie es gewesen ist. Guck mal.«
Schläfti wies auf einen schmalen Spalt zwischen Gesteinstrümmern.
»Hast du mal was von ›Olga‹ gehört?«
Ich verneinte.
»Im Herbst 1944 haben die Nazis hier Olga gebaut. Ein bombensicheres Hauptquartier für den Führer. Ein ungeheurer Maulwurfsbau. Viele Kilometer Gänge und unterirdische Hallen. Die Arbeiter waren Juden aus Buchenwald, das in der Nähe liegt. 5000 sind draufgegangen bei der Schufterei oder erschossen worden, weil man keine Zeugen gebrauchen konnte. Dies Loch ist heute der einzig offene Zugang zu Olga. Alle anderen Zugänge hat die SS gesprengt, bevor die Amis hier waren. Auch drinnen ist überall gesprengt worden. Die meisten Gänge des Labyrinths sind verschüttet. Keiner weiß, was für Schätze im Inneren des Berges sind. Vielleicht sogar das berühmte Bernsteinzimmer. Volz hat lange danach gesucht. Komm jetzt. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Schläfti zog eine Stablampe aus seiner Lederjacke und setzte den Bauhelm auf. Ich hielt ihn am Ärmel fest.
»Ich habe keine Lust zu dieser Expedition, Schläfti«, sagte ich. »Ich war vor gar nicht langer Zeit im hohen Norden in einem
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