Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
dünn, offenbar war die Ansprache nach dem Geschmack der Anwesenden allzu kühn.
Dann kamen die einzelnen Auftritte, junge Gitarristen, Pianisten, viel ordentlich Geübtes, das meiste allzu lieblos reproduziert. Es wurde jedoch jedesmal heftig und beinahe verbissen geklatscht.
Dann kam Bach, die Sonate in C-Dur. Die Interpretin hieß Nadja, Nadja Reuter, so stand es auf dem Programmzettel. Sie trug eine Anzugjacke mit feinen Nadelstreifen und eine weiße Bluse, deren Rüschen zwischen den Revers hervorquollen wie eine Handvoll Kirschblüten.
Sie hatte jene atemraubende Mädchenhaftigkeit, die in jeder eckigen und unbeholfenen Bewegung an Reiz zu gewinnen scheint. Rote Flecken auf ihren Wangen verrieten ihre Aufregung, ich glaubte ihren Herzschlag wie ein zu schnell eingestelltes Metronom zu hören. Als die begleitende Pianistin, die wie eine LPG-Bäuerin aussah, in die Tasten hieb, verpaßte Nadja den Einsatz. Der Lehrer schüttelte den Kopf, die Prozedur wurde wiederholt, und diesmal schraubten sich die Töne der Traversflöte wie eine versilberte Lerche in die Höhe.
Nadja spielte hinreißend. Ihre Atemtechnik war mangelhaft, sie sog die Luft zu hastig und scharf ein in den Pausen, aber die Intensität ihres Spiels war unübertrefflich. Ihre Finger rankten über das Silberrohr, ihre Lippen wölbten sich zum Mundstück. Bei besonders schwierigen Passagen schloß sie die Augen, um dann mit nachtwandlerisch sicherer Intonation über sie hinwegzuschweben.
Ich verliebte mich noch während des ersten Satzes der Sonate. Als sie dann Syrinx spielte, versagte ihre Tonbildung in den Höhen. Der Ton wurde unsauber, kiekste, überschlug sich. Das steigerte nur meine Gefühle, mischte ein angenehmes Quantum Väterlichkeit hinein.
Der Lehrer klopfte ab, sagte, sie solle einen Schluck Wasser trinken, sie sei wohl überspielt, ihre Lippen zu trocken. Nadja tat wie geheißen, und dann überwand sie auch die Hürden dieser schwierigen Musik.
Nach dem Konzert wartete ich unter der goldenen Kuppel, bis auch die Musiker mit ihren Familienmitgliedern erschienen. Ich stellte mich neben den Lehrer, der die einleitenden Worte gesprochen hatte. »Hat es Ihnen gefallen?« sagte er. »Entspricht es dem Standard, den Sie gewohnt sind?«
Er hatte mich mühelos als Ausländer erkannt. »Alle waren gut«, sagte ich. »Und besonders die Flötistin.«
»Ja, sie könnte gut werden, wenn sie mehr an sich arbeitet.«
»Mir hat auch gefallen, was Sie über Musik und Politik gesagt haben.«
Er sah mich prüfend an. »Es ist meine Meinung, und sie ist hier nicht populär. Übrigens gilt sie nicht für Gesang, gleichgültig ob Oper oder Lied. Das ist politische Musik.«
»Wie meinen Sie das?« fragte ich. Er hatte mein höchstes Interesse geweckt.
»Die menschliche Stimme hat eine ganz andere suggestive Kraft als die Töne eines Instruments. Mit einem Lied können Sie ganz tief hinablangen in den Keller der Seele. Das schafft kein Instrument, kein Orchester, nicht einmal Marschmusik. Mit einem Lied aber können Sie Liebe oder Haß beschwören, Sie können einen Menschen betäuben, ihn verändern. Im Lied kann es archaische Süße und Wahnsinn geben, gesungene Stimmen aus der Hölle, dem Himmel, Engelszungen. Das Schreien eines Gefolterten geht in Gesang über, man sagt, ein sterbender Schwan singt. Viele politische Reden von Demagogen sind in Wahrheit Libretti. Reicht Ihnen das als Erklärung?«
Ich glaubte Spott in seinem Blick zu sehen. In diesem Moment ging Nadja dicht an mir vorbei. Sie streifte mich. Und ich spürte, wie ein Sog entstand, dem ich folgen mußte. Ich ging ihnen nach, Nadja und einem Paar, in dem unschwer ihre Eltern zu erkennen waren. Plötzlich war wirklich Weihnachten für mich. Ich dachte an Ines und sah Nadja vor mir, ein schmaler Schatten, fast verhüllt von der Nacht. Ich hatte ein unvermutetes Geschenk bekommen, zwei unerfüllbare kleine Liebesgeschichten. Die Unschuldige und die Verworfene, die zwei Kugelhalbschalen typisch männlicher Liebeslust.
Wieder war ich Beschatter, Mädchenjäger, an dem Wilhelm seine Freude gehabt hätte. Ich schlich ihnen nach durch die unbeleuchteten Gassen. Nadja ging eingehakt zwischen ihren Eltern. Dann verschwanden sie in einer Jugendstilvilla.
Ich stand noch lange auf der Straße, bis oben ein Licht anging und wieder erlosch in einem Raum, der sicher ein typisches Mädchenzimmer war. Auf dem Rückweg zum Hotel stellte ich mir vor, wie Nadja beim Einschlafen ihren Teddy
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