Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
war ich es, der weiterwollte, der vorwärtsdrängte, als hätte ich mich bereits der Strömung angepaßt, als sei Todessehnsucht das Hauptmotiv weiterzuleben.
Man warf mich in einen Raum. Es war völlig finster. Der Boden kalt. Ich hatte das Gefühl, geschlagen worden zu sein, alles tat mir weh, jeder Knochen im Leib, aber man hatte mir nichts getan, die Schmerzen waren eingebildet, aber so perfekt, daß sie völlig real waren.
Mühsam kam ich hoch, erst auf die Knie, dann stand ich schwankend da, lauschte, rieb meine Augen, sah das rötliche Flimmern, das mein pulsierendes Blut auf die Netzhaut bannte. Ich bewegte mich mit kurzen, unsicheren Schritten, streckte meine Hände vor, um nirgends anzustoßen, aber ich fühlte sie nicht. Ab den Gelenken waren sie taub, wie amputiert.
Als ich mit dem Fuß gegen etwas Weiches stieß, hörte ich ein Stöhnen. Kein Zweifel, da lag ein Mensch auf dem Boden. Ich bückte mich, tastete mit den Händen, fühlte, daß der Boden glitschig war, roch den säuerlichen Gestank von Erbrochenem. Dann fühlte ich ein Gesicht. Sofort wußte ich, wer es war. Auch wenn man den Bart offenbar abrasiert hatte und auch sein Kopf völlig kahl zu sein schien.
»Was ist mit dir, Schläfti?« flüsterte ich. »Was haben sie mit dir gemacht?«
»Piet? Bist du es?«
Er stöhnte und sprach undeutlich. Unverkennbar, daß er große Schmerzen hatte. Ich schob einen Arm unter ihn und stützte ihn hoch.
»Schläfti, was haben die mit dir angestellt?«
»Nichts, sie haben mir nichts getan.« Er lachte. Es klang wie eine Ziege. »Das ist nämlich das Gemeine, daß sie mir nichts getan haben. Sie haben nur diesem blöden Kerl etwas getan, in dem ich stecke.« Er hustete. Es war ein richtiger Anfall. Als er vorbei war, flüsterte er: »Komm, Piet, erzähl mir was Schönes. Ein Märchen.«
Ich lehnte mich gegen ihn. Wir saßen Rücken an Rücken in der Stockdunkelheit. Schwach klang die Musik von draußen, die zündenden Melodien Emmerich Kálmáns.
»Was für ein Märchen möchtest du hören, Schläfti?«
»Am liebsten eines mit einem Schloß und einer Prinzessin. Und es soll ein wenig grausam sein, aber nicht zu sehr.«
»Dann erzähl ich dir das Märchen vom Meerhäschen.« Ich hatte es auf der Herfahrt im Zug gelesen und entsann mich noch gut seiner bizarren Einzelheiten.
»Es war einmal eine Königstochter, die hatte in ihrem Schloß hoch unter der Zinne einen Saal mit zwölf Fenstern. Die gingen in alle Himmelsgegenden. Von dort aus konnte man alles sehen im Reich. Aus dem ersten Fenster sah man schon schärfer als Menschen, aus jedem weiteren immer noch schärfer, und aus dem zwölften konnte die Prinzessin sogar alles sehen, was hinter Mauern oder unter der Erde war. Nachts leuchteten die Fenster wie Sterne.
Weil die Königstochter aber stolz war und sich niemand unterwerfen wollte, ließ sie im Reich verkünden, sie werde nur den heiraten, der sich so gut verstecke, daß sie ihn vom Saal aus nicht sehen könne. Wer es aber versuche und sie entdecke ihn, dessen Haupt werde abgeschlagen und auf einen Pfahl gesteckt.
Bald standen siebenundneunzig Pfähle mit toten Köpfen vor dem Schloß, und niemand traute sich mehr, sich zu melden. Nun bin ich für immer frei, dachte die Prinzessin. Da aber erschienen drei junge Brüder, um ihr Glück zu versuchen. Der erste versteckte sich in einer Grube voller gelöschtem Kalk. Er war ganz weiß wie ein Schneemann. Die Prinzessin entdeckte ihn schon aus dem ersten Fenster und ließ ihn köpfen. Der zweite versteckte sich in dem Keller des Schlosses. Auch ihn sah die Prinzessin bereits aus dem ersten Fenster. Sein Kopf war der neunundneunzigste. Der jüngste Bruder aber bat um einen Tag Bedenkzeit und darum, daß er zweimal bei Entdeckung das Leben geschenkt bekäme. Beim drittenmal würde er es willig hergeben. Weil er so schön war, war die Königstochter damit einverstanden.
Der Bursche nahm eine Flinte und ging auf die Jagd. Da sah er einen Raben. Als er ihn schießen wollte, rief der Vogel: ›Schieß nicht, ich will dir’s vergelten!‹ Er schoß nicht und ging weiter an den See. Ein großer Fisch kam an die Oberfläche, er legte an. ›Schieß nicht!‹ rief der Fisch, ›ich will dir’s vergelten!‹
Er ging weiter und traf einen hinkenden Fuchs. Diesmal schoß er, aber er fehlte. Da sagte der Fuchs: ›Laß ab, zieh mir lieber den Dorn aus dem Fuß. Ich will dir’s vergelten.‹ Der Junge ließ ihn laufen.
Am anderen Tage sollte er sich
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