Blick in Die Angst
Straßen von Victoria waren, bis mein Kind darin verlorenging; hatte nicht gewusst, wie viele dunkle Gassen und verlassene Gebäude es gab oder wie hilflos ich mich deswegen fühlen würde.
Als ich Lisa nirgendwo fand, fuhr ich nach Hause. Am ersten Dezember war ich aus Nanaimo, einer Stadt etwa eineinhalb Stunden nördlich von Victoria, hierhergezogen, in der Hoffnung, irgendwie den Kontakt zu ihr herzustellen. Bis zum Juli davor, bevor ich mich endgültig zu diesem Schritt entschlossen hatte, hatte ich meine Praxis weitergeführt, da ich meine Klienten nicht ohne Unterstützung lassen wollte. Sobald ich alle verbliebenen Klienten an einen ausgezeichneten Therapeuten in der Stadt übergeben hatte, hatte ich mir den Rest des Sommers freigenommen und war umhergereist. Im Herbst hatte ich mein Haus zum Verkauf angeboten, immer noch mit dem Plan, eine Privatpraxis in Victoria zu eröffnen, als eine Stelle in der Erwachsenenpsychiatrie des St. Adrian’s Hospital frei wurde. Kurz darauf war mein Haus verkauft.
Jetzt war es Februar, mehr als zwei Monate später, und ich hatte mich immer noch nicht in Fairfield, meinem neuen Viertel in Victoria, eingelebt. Es war eine reizende Gegend mit baumgesäumten Straßen zwischen Oak Bay, James Bay, Rockland und dem Beacon Hill Park und grenzte im Süden direkt an die Küste der Juan-de-Fuca-Meerenge. Normalerweise ließ ich mir Zeit, damit ich all die denkmalgeschützten Häuser bewundern konnte, doch heute war ich zu abgelenkt und seufzte erleichtert, als ich auf der Auffahrt zu meinem neuen Haus anhielt.
In einer Straße mit älteren viktorianischen Häusern gelegen, war es in einem Mix aus traditionellem Westküstenstil und modernen Asia-Elementen erbaut. Überall scharfe Kanten, goldgestrichene Holzverkleidung im unteren Bereich, stahlblaue Plankenverkleidung in der oberen Hälfte, dazu große Glasfronten mit breiten weißen Rahmen. Das Aluminiumdach lag wie ein silberner Schrägstrich darüber, und es gab sogar eine Dachterrasse für den morgendlichen Tee. Bambus in großen schwarzen Keramiktöpfen säumte die Vordertreppe und den Fußweg und setzte sich in einem bernsteinfarbenen Holzzaun und einem Tor mit schwarzen Beschlägen fort. Die Garage auf der Rückseite war zu einem Gartenschuppen umgebaut worden, der sich perfekt für mein neues Hobby eignete – dem Ziehen von Bonsais, einer Kunst, die ich schon immer bewundert hatte und noch längst nicht beherrschte. Ich hatte aus Spaß einmal einen Kurs besucht und am Ende festgestellt, dass mich diese Tätigkeit ungeheuer entspannte. Ich verbrachte so viel Zeit mit Kopfarbeit, dass es guttat, zur Abwechslung etwas Kreatives zu machen. Das sorgfältige Formen und Kultivieren eines Baumes über einen langen Zeitraum gemahnte mich außerdem daran, meinen Patienten gegenüber Geduld aufzubringen.
Ehe ich aus dem Wagen stieg, vergewisserte ich mich mit einem raschen Blick in die Spiegel, dass niemand mir auflauerte. Letzten Sommer war ich in Nanaimo vor meiner Praxis überfallen worden – ein weiterer Grund für mich umzuziehen, obwohl ich zu dem Zeitpunkt bereits darüber nachgedacht hatte. Ich hatte mir damals nichts gebrochen, aber ich war bewusstlos geschlagen worden und hatte den Angreifer nie gesehen. Eine Klientin hatte zu dieser Zeit ziemliche Probleme mit ihrem leiblichen Vater, und zunächst verdächtigte man ihn, hinter dem Überfall zu stecken. Doch im Laufe der Ermittlungen erschien das immer unwahrscheinlicher. Eine weitere Patientin hatte kurz zuvor ihren gewalttätigen Mann verlassen. Als er in die Praxis kam, um mich zur Rede zu stellen, weigerte ich mich, ihm zu erzählen, wo sie war. Eine Woche später wurde ich überfallen. Die Polizei konnte nicht beweisen, dass er es war, aber ich war mir dessen sicher.
Ich schloss die Haustür auf, hielt jedoch inne, als mir eine schwarze, offensichtlich herrenlose Katze auffiel, die nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien und gerade über die Straße in Richtung Ross-Bay-Friedhof bummelte. Hoffentlich hatte sie irgendwo einen warmen Unterschlupf. Meine letzte Katze, Silky, war im Juni gestorben, und ich hatte es nicht übers Herz gebracht, eine neue zu adoptieren. Ich redete mir ein, es läge daran, dass ich reisen wollte, doch ich wusste, dass ich in Wirklichkeit noch nicht bereit dazu war. In der Sicherheit meines Hauses nahm ich ein Bad, um den Geruch der Klinik abzuwaschen, zog mein taubengraues Lieblings-Yoga-Outfit an, bereitete mir eine Tasse Tee, und
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