Blick in Die Angst
Schattierungen schimmerte, von fast schneeweiß um mein Gesicht herum bis fast schwarz an der Unterseite, gefiel mir ausnehmend gut. Früher hatte ich mein Haar immer kurz und asymmetrisch schneiden lassen, doch irgendwann ließ ich es wachsen, und inzwischen fiel es mir bis über die Schultern.
Passend dazu trug ich Kleider in allen Grauschattierungen sowie Stahlblau. Ich bevorzugte einen schicken Vintage-Stil – lange Röcke mit Stiefeln, weite, fließenden Hosen und Tuniken, klotzigen Silberschmuck, Umschlagtücher und Schals, was zu meiner Leidenschaft für Reisen und Kunst passte. Manchmal fragte ich mich, ob ich in einem früheren Leben vielleicht eine Zigeunerin gewesen war. Aber es gab auch noch einen anderen Teil von mir, der liebend gern zu Hause blieb. Wenn wir früher zusammen badeten und den Wein direkt aus der Flasche tranken, sagte Paul immer zu mir: »Du bist eine komplizierte Frau, Nadine. Ich freue mich darauf, den Rest meines Lebens damit zu verbringen, dich zu ergründen.«
Ich empfand einen plötzlichen Stich in meinem Herzen, wie immer, wenn meine Gedanken zu meinem Mann Paul abschweiften, der vor zehn Jahren an Prostatakrebs gestorben war. Er war die Liebe meines Lebens gewesen, und jetzt ersetzten meine Arbeit und meine Patienten mir eine Beziehung.
Enttäuscht musste ich feststellen, dass ich Maurice verpasst hatte, einen Psychiater, der ebenfalls in der Klinik arbeitete. Ich wollte mit ihm über Heather reden, aber er hatte seine Visite schon früh beendet. Während ich noch überlegte, welchen der anderen Ärzte ich sonst noch fragen könnte, rannte ich beinahe in Dr. Kevin Nasser hinein, der gerade aus seinem Büro kam. Als klinischer Psychologe hatte er sein Büro im Hauptteil des Gebäudes.
Kevin streckte den Arm aus, um mich festzuhalten. Seine Hand lag warm auf meiner. »Guten Morgen, Nadine. Wie geht es Ihnen?«
Viele Menschen benutzten diese Standardbegrüßung, ohne sie wirklich ernst zu meinen, doch schon bei unserer ersten Begegnung hatte ich gespürt, dass er aufrichtig an meiner Antwort interessiert war, selbst wenn wir nur Höflichkeiten austauschten.
»Gut, danke. Ist Erick heute im Haus?«
»Er hat für den Rest der Woche frei.« Mein Gesicht musste irgendetwas verraten haben, denn er fragte: »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
»Ich wollte nur eine zweite Meinung einholen.« Ich blickte den Korridor hinunter zur Station. Ich würde mich bald entscheiden müssen.
»Kommen Sie in mein Büro.« Er öffnete die Tür.
Ich zögerte. Sollte ich die Sache nicht doch besser mit mir allein ausmachen? Doch da ich immer noch unschlüssig war, wie ich die Situation mit Heather handhaben sollte, trat ich schließlich ein. Ich war nie zuvor in seinem Büro gewesen. Es schien, als habe er versucht, es etwas zu verschönern. In der Ecke stand ein Farn, daneben hing ein Wandteppich, der aussah, als stammte er aus dem Nahen Osten.
Kevin war meinem Blick gefolgt. »Die Patienten sollen sich außer meiner Ganovenvisage noch etwas anderes anschauen können«, lächelte er.
Dabei war er alles andere als hässlich. Gewiss, er war nicht auf klassische Weise schön, nicht wie Daniel Simeon, aber er hatte ein interessantes Gesicht. Seine Züge wirkten beinahe libanesisch, die Nase war breit, die Haut gebräunt, die tiefliegenden Augen waren dunkel. An den Augenwinkeln strahlten feine Linien in alle Richtungen ab. Ich wusste, dass er fünfundvierzig war, aber sein Haar war immer noch pechschwarz ohne eine einzige graue Strähne. Er kleidete sich nicht sehr förmlich und trug meistens dunkle Jeans mit einem netten Hemd und Krawatte, dazu ein lässiges Jackett. Die Brille mit der schmalen, schwarzen Fassung stand ihm gut. Ich hatte bisher nur wenige Male mit ihm gesprochen, doch ich fand ihn freundlich und intelligent.
»Und, wie gefällt Ihnen die Arbeit im Krankenhaus?«, fragte er.
»Sehr gut. Jeder hier gibt mir das Gefühl, willkommen zu sein.«
»Nun, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, sagen Sie bitte Bescheid.«
Ich lächelte. »Danke.«
»Und wobei brauchen Sie eine zweite Meinung?«
»Eine Patientin, Heather Simeon, wurde vor zwei Nächten nach einem Suizidversuch eingeliefert. Während unseres Erstgesprächs stellte ich fest, dass ich nicht die geeignete Ärztin für sie bin. Ich würde sie gerne an jemand anders abgeben.« Obwohl wir außerhalb der Station die Patientendaten vertraulich behandeln mussten, durften die Ärzte untereinander über sie reden, da wir als
Weitere Kostenlose Bücher