Blick in Die Angst
taten auch einiges für die Gemeinde und unterstützten Projekte überall auf der Welt. Es gab Fotos von Menschen, die Gräben aushoben, auf Feldern arbeiteten, Gebäude errichteten. Es gab einen Spendenknopf, und ich überlegte, wie viel Geld wohl tatsächlich aufgewendet wurde, um in notleidenden Ländern zu helfen.
Ich war beeindruckt und überrascht, wie professionell die Kommune seit den sechziger Jahren geworden und zu was sie herangewachsen war. Offensichtlich handelte es sich inzwischen um eine ansehnliche Organisation, mit spirituellen Zentren in drei Ländern, und wahrscheinlich war sie ziemlich wohlhabend. Es gab einen ausgefeilten Online-Katalog, an dessen Anfang ein Brief ihres Leiters, Aaron Quinn, stand.
Ich starrte auf sein Foto. Verschwunden waren die langen Haare und der Bart. Der schneeweiße Schopf war ordentlich gestutzt, genau wie sein Bart, aber er war immer noch ein attraktiver Mann. Er trug einen dunklen Rollkragenpullover und lächelte freundlich in die Kamera, sein Blick strahlte Weisheit aus. Er sah genauso aus, wie er sich darstellte: Wie der Leiter eines Zentrums, das sich der Selbsterkenntnis und Spiritualität verschrieben hatte. Doch als ich seine Gesichtszüge musterte, spürte ich, wie mich etwas auf meinem Stuhl zurückzog, als müsste ich Distanz zwischen uns schaffen.
Ich las sein Grußschreiben. Las, dass er das Zentrum aufgebaut hatte, weil er glaubte, bei der gegenwärtigen Klimakrise sei es wichtiger als je zuvor, die Menschen aufzurütteln und für die Not der Erde empfänglich zu machen. Sie verlangten gewaltige Summen für ihre Workshops und Intensivkurse, die von einem Wochenende bis zu einem Monat dauern konnten – wenn man akzeptiert wurde, denn sie nahmen nur eine bestimmte Anzahl Teilnehmer pro Kurs auf. Wer Mitglied werden wollte, musste sich bewerben und bereit sein, dauerhaft in der Kommune zu leben. Ich fragte mich, nach welchen Kriterien die Mitglieder ausgewählt wurden. Ich fragte mich auch, was wohl aus Joseph geworden war, und versuchte, sein Alter zu berechnen. Wenn er etwa achtzehn gewesen war, als ich ihn kennenlernte, dann wäre er jetzt Ende fünfzig. Aaron war damals zweiundzwanzig und musste jetzt Anfang sechzig sein.
Ich sah mir erneut Aarons Foto an. Als ich an Heather im Krankenhaus dachte, an die Verbände an ihren Handgelenken und an ihre Schuldgefühle wegen ihres toten Kindes, machte sein stilles Lächeln mich plötzlich wütend. Ich schaltete den Computer aus.
4. Kapitel
Am nächsten Morgen erwachte ich spät und unausgeschlafen. Obwohl ich keinen Appetit hatte, zwang ich mich, auf dem Weg zum Krankenhaus einen Muffin zu essen, und spülte ihn mit einem Tee aus einem Eckcafé herunter. Vor der Visite hoffte ich, mit einem meiner Kollegen sprechen zu können. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass es für Heather besser wäre, wenn sie eine Ärztin bekäme, die nie etwas mit der Kommune zu tun gehabt hatte, aber ich wollte vorher mit jemand anders darüber reden. Als ich den Korridor entlang auf die geschlossene Abteilung zueilte, kam mir Michelle entgegen. Lächelnd sagte sie: »Guten Morgen, Dr. Lavoie.«
Ich lächelte ebenfalls. »Guten Morgen.«
Sie blieb stehen und betrachtete meinen Schal. »Der gefällt mir. Was für eine wunderschöne Farbe.«
Ich blickte hinunter auf den lavendelfarbenen Stoff. Ich war heute Morgen abgelenkt gewesen und konnte mich kaum daran erinnern, ihn umgelegt zu haben. »Danke. Ich habe ihn schon ewig.«
»Sie sind immer so schön angezogen. Also, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«
»Ihnen auch.«
Sie ging weiter und ließ mich heiterer zurück, als ich durch die Tür gekommen war. Michelle war einfach wunderbar, so lebensbejahend und anderen Menschen zugewandt. Vor ein paar Tagen hatte ich ihr im Pausenraum erzählt, dass ich diesen Monat fünfundfünfzig würde. Sie hielt inne, den Becher auf halbem Weg zum Mund, und sagte: »Sie wollen mich auf den Arm nehmen. Ich dachte, wir wären etwa gleich alt.«
Michelle war höchstens Mitte vierzig. Ich lachte. »Schön wär’s.«
Sie sagte: »Jedenfalls sehen Sie gut aus.«
»Das ist nett von Ihnen.« Ich wusste, dass ich jung für mein Alter aussah – ich pflegte meine Haut gut und ernährte mich gesund. Ich war zwar süchtig nach Popcorn und den Erdnuss-M&Ms, aber das glich ich durch Fahrradfahren und Yoga wieder aus. Mit Mitte vierzig beschloss ich, mir die Mühe des ständigen Haarefärbens zu sparen, und der Silberton, der in allen möglichen
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