Blick in Die Angst
dann, erst dann, gestattete ich mir, darüber nachzudenken, was ich im Krankenhaus erfahren hatte – und was ich deswegen unternehmen sollte.
Meine Mutter hatte uns erzählt, dass die Kommune nach Victoria umgezogen war, kurz nachdem wir sie verlassen hatten, und ich hatte angenommen, dass sie sich irgendwann aufgelöst hätte. Einmal, mit Anfang zwanzig, fuhr ich mit einem Freund auf der Suche nach einer guten Badestelle durch die Berge und erkannte den alten Eingang zum Gelände der Kommune wieder. Er wollte anhalten und sich umschauen, da er Gerüchte von einer Gruppe Hippies gehört hatte, die hier kampiert hätten. Ich verschwieg ihm, dass ich ebenfalls dort gelebt hatte, war aber auch neugierig. Wir liefen auf der Lichtung herum, die mittlerweile ziemlich überwuchert war, und ich kam mir vor wie in einer Geisterstadt. Die Hütten und Schuppen standen leer, die Türen hingen schief in den Angeln, und die Fensterscheiben waren zerschlagen. Unsere Stimmen verloren sich im stillen Wald. Mir wurde immer beklommener zumute, je näher wir dem Fluss kamen, mein Herz raste, und meine Brust wurde eng. Ich überredete meinen Freund, zu verschwinden, und glaubte, allein die Stille und der dunkle Wald hätten mir Angst gemacht.
Erst Jahre später sprach ich mit meinem Therapeuten über die Monate, die ich in der Kommune verbracht hatte. Ich erzählte ihm alles, an das ich mich von dem Ort und den anderen Mitgliedern noch erinnerte, von meinem Bruder und meiner Mutter, wie wir im Fluss schwammen, von den Lagerfeuern bis spät in die Nacht. Doch ich konnte mich an kein einziges besonderes Erlebnis erinnern, das meine Klaustrophobie hätte erklären können, nicht einmal endlose Hypnosesitzungen förderten etwas zutage. Da war lediglich dieses unbestimmte Gefühl, dass mir einige der Dinge, die die Erwachsenen getan hatten, nicht gefallen hatten. Und dass ich mich in Aarons und Josephs Gegenwart unbehaglich gefühlt hatte – jenes jungen Mannes, den ich am ersten Tag kennengelernt hatte, und seines jüngeren Bruders. Manchmal glaubte ich, ich könnte das eine oder andere vergessen haben, wie Leerstellen in meiner Lebenschronik, aber nichts, was ich näher hätte benennen können.
Und jetzt sollten sie immer noch in der Nähe von Victoria sein? Ich konnte es nicht fassen, war aber auch neugierig, wie die Kommune heute war und ob immer noch dieselben Menschen dort lebten.
An diesem Abend ging ich ins Internet und erfuhr einiges über das River of Life Spiritual Center. Es dauerte nicht lange, bis ich ihre Website gefunden hatte, mit dem Leitsatz: »Wir begleiten Dich auf Deinem Weg zur Erleuchtung.« Es gab herrliche Bilder von der Kommune, die rund 100 Hektar Land an der Mündung des Flusses besaß. Ich war seit Jahren nicht mehr in dem Ort Jordan River gewesen, doch ich erinnerte mich, dass es eine kleine Gemeinde etwa eine Stunde westlich von Victoria war. Ursprünglich war es einmal ein Holzfällercamp gewesen, und es gab nicht viel von dem, was ein Ort sonst zu bieten hatte, lediglich ein paar Imbissbuden und einen Gemischtwarenladen.
Das Land der Kommune schien vorwiegend aus Wald und Wanderwegen zu bestehen, allerdings gab es auch große Flächen Farmland, dessen Bewirtschaftung zu ihrem Unterhalt beitrug und Teil des Therapieprogramms war. Es schien ein faszinierender Ort zu sein. Auf der Website wurden anschaulich die Heilkräfte der Erde und die angebotenen Workshops beschrieben, die zu einem für Geist und Seele erfüllten Leben führten. Mit Meditation, spiritueller Erweckung, dem Aufbau von Beziehungen, dem bewussten Leben und Sterben, dem Vermischen von östlicher und westlicher Philosophie könne jeder Einzelne sein persönliches Potential vollkommen ausschöpfen. Es gab Schwitzhütten, Mineralbäder und aufwendig gestaltete Gärten. Die gesunden Mahlzeiten wurden aus dem zubereitet, was auf dem eigenen Land wuchs. Immer wieder wurde die Tugend eines einfachen, ausgewogenen Lebensstils hervorgehoben.
Laut der Website würde man neue Freundschaften schließen und ein größeres Verständnis für sich selbst und das Leben entwickeln, je mehr man von der allumfassenden Welt erfuhr. Man würde neues Selbstvertrauen finden und große persönliche Zufriedenheit erlangen. Mit Nachdruck schrieben die Autoren, dass wir nur die Verwalter der Erde seien und dass die Menschen sich ihrer Verantwortung stellen müssten. Ich dachte an Heathers Worte bei unserem ersten Gespräch: Wir kümmern uns um die Erde .
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