Blick in Die Angst
die Slipper anziehen, den Hausmantel anziehen, Zähneputzen. Dann starrte ich die Frau im Spiegel an, und der Schmerz brach in erstickten Schluchzern aus mir hervor.
Ich war schon zuvor mit Tod und Trauer konfrontiert gewesen, ich verstand, welche Phasen ich durchlebte. Doch auf den Verlust so vieler Menschen oder die quälende Warterei auf die Nachricht, ob Lisa unter den Opfern war, hätte ich mich niemals vorbereiten können. Ich weinte um sie alle.
Sergeant Pallan ertrug meine verzweifelten Anrufe spät am Abend, in denen ich ihn wieder einmal fragte, ob sie auch überall nach Lisa gesucht hatten.
»Könnte sie im Keller in einer der Kammern sein?«, fragte ich.
Doch wie jedes Mal erzählt er mir, dass sie immer noch verschwunden war. Sanft fügte er hinzu: »Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis alle Opfer identifiziert sind. Viele der Leichen sind bei der Explosion übel zugerichtet worden.«
Ich konnte nicht akzeptieren, dass sie ebenfalls im Leichenschauhaus lag, nicht ehe ich den Beweis hatte. In einer endlosen Schleife ging ich alle Eventualitäten durch: Sie hatte das Zentrum vor dem Feuer verlassen, oder sie war Zeugin der Katastrophe geworden, versteckte sich jetzt irgendwo und fürchtete um ihr Leben.
In allen Szenarien, die ich mir ausmalte, war sie am Leben. Sie musste am Leben sein.
Aaron lag immer noch im Krankenhaus. Er bestand darauf, sein Bruder habe aus eigenem Antrieb gehandelt, doch die Polizei argwöhnte, dass sie einen Plan gehabt hatten für den Fall, dass es jemals Probleme gäbe. Es schien keinen anderen stichhaltigen Grund zu geben, warum in den Räumen der Kommune explosive Chemikalien gelagert wurden. Aaron gab vor, von der Tragödie am Boden zerstört zu sein und allein in dem Wissen Trost zu finden, dass seine Mitglieder nun an einem friedlicheren Ort seien. Doch ich wusste, dass das eine Lüge war. Er hatte nicht nur ganz genau gewusst, dass sein Bruder psychisch krank war, sondern hatte dessen Paranoia auch noch genährt. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass die Wahrheit ans Licht kommen und die Menschen sich von ihm abwenden könnten. Jetzt erkannte ich, dass seine Angst vor Zurückweisung schon immer sein ganzes Handeln geprägt hatte. Er hatte die Kommune aufgebaut und sich damit die Familie geschaffen, die er nie gehabt hatte. Sie galt es um jeden Preis zu erhalten, selbst wenn es bedeutete, am Ende alles zu zerstören, um sich niemals ihrer Ablehnung und ihrem Verlust auszusetzen. Ich war froh, dass er wahrscheinlich den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen und in einer kleinen Zelle verrotten würde.
Manche Kommunemitglieder in anderen Ländern glaubten unbeirrt an Aarons Unschuld, und da auch Joseph möglicherweise noch am Leben und Aaron durchaus in der Lage war, Befehle zu erteilen, fuhr die Polizei vor meinem Haus verstärkt Streife. Man befürchtete, Joseph könnte sich darauf versteifen, mich zu bestrafen und den Auftrag zu Ende zu bringen, den Aaron ihm erteilt hatte, wie auch immer dieser genau lautete. Es war eine sehr reale Bedrohung, und ich teilte die Angst. Ich lebte in einem Zustand der Ungewissheit, wartete darauf, dass irgendetwas geschah – dass Joseph auftauchte, dass Daniel gefasst wurde, dass man Lisa fand. Jeden Tag rief ich bei der Polizei an und fragte nach Neuigkeiten.
Einer der Überlebenden verkaufte seine Geschichte an die Zeitungen, die anderen folgten seinem Beispiel. Als die Reporter herausfanden, dass meine Tochter, eine ehemalige Drogensüchtige, vermutlich ebenfalls unter den Opfern und ich eine angesehene Ärztin war, fingen sie an, mich zu belagern. »Was für ein Gefühl war es, als Ihre Tochter sich der Sekte anschloss?« »Haben Sie das kommen sehen?« »Glauben Sie, dass sie noch lebt?«
Mary brach zusammen, als sie von dem Massenmord erfuhr und sich dem Vorwurf der Komplizenschaft ausgesetzt sah, und erzählte endlich ihre Geschichte. Als sie damals die Kommune verließ, wusste sie, dass sie schwanger war, hoffte jedoch, dass Aaron es niemals herausfinden würde. Wenige Jahre später starben ihre Eltern und hinterließen ihr einen beträchtlichen Batzen Geld. Aaron sah die Todesanzeige. Er kam nach Shawnigan, verlangte eine Spende von ihr und begriff rasch, dass Daniel sein Sohn war. Er erlaubte Mary, ihn zu behalten, und versprach, keinen Sorgerechtsstreit anzuzetteln, doch dafür musste sie jeden Monat Geld an die Kommune überweisen, und er wollte seinen Sohn jederzeit besuchen können. Als Teenager
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