Blick in Die Angst
Macht.
»Dein Bruder ist tot , Aaron.« Schroff und unversöhnlich spie ich die Worte aus. Niemand wusste, ob das stimmte, aber ich wollte ihn aufrütteln, wollte ihn verletzen, wie er mich verletzte. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Wusste er irgendetwas?
»Er war die einzige Familie, die du je hattest, der einzige Mensch, der dich geliebt hat. Schon bald werden die restlichen Mitglieder das Interesse an dir verlieren und jemand anders finden, an den sie glauben können. Keinen einsamen alten Mann, der hinter Gittern sitzt.«
Er blieb vollkommen ruhig. »Es gibt andere, die lernen wollen, wie sie ihr Leben verändern können.« Er schaute sich um. »Hier gibt es viele, die meine Hilfe brauchen.«
Meine Stimme wurde kalt. »Du hast etwas vergessen, Aaron. Sobald du verurteilt bist, wanderst du in den Knast. Und wenn deine Mitgefangenen herausfinden, dass du kleine Mädchen vergewaltigt hast, wirst du derjenige sein, der Hilfe braucht. Du wirst derjenige sein, der allein in der Dunkelheit schreit und der die anderen anbettelt, aufzuhören. Aber das werden sie nicht.«
Er lächelte immer noch, aber ich sah die Angst in seinen Augen. Mehr brauchte ich nicht.
Ich legte den Hörer auf.
Garret wurde verhaftet. Eine seiner Kundinnen, ein junges Mädchen, hatte mitbekommen, dass die Polizei bei ihm im Studio aufkreuzte, um mit ihm zu reden. Vorher hatte er Nacktfotos von ihr gemacht, und jetzt hatte sie Angst, Schwierigkeiten zu bekommen. Sie erzählte ihrer Mutter alles, und die Frau zeigte Garret an. Bald darauf folgten weitere Anzeigen. Als man seine Wohnung durchsuchte, fand man Ampullen mit GHB sowie Nacktfotos, die er von anderen obdachlosen Frauen gemacht hatte, während sie unter Drogen zu stehen schienen. Offensichtlich genoss er das Gefühl der Macht, wenn er Frauen unter Drogen setzte und sie nach seinen Wünschen posieren ließ, zumeist in demütigenden Stellungen. Man fand auch noch weitere Bilder von Lisa auf seiner Festplatte. Ich hoffte, Lisa würde eines Tages erfahren, dass der Mann, der sie missbraucht hatte, endlich für seine Verbrechen bezahlen würde.
Nach der Arbeit fuhren Kevin und ich noch oft in die Innenstadt, um nach Lisa zu suchen und Plakate aufzuhängen. Ich wusste, dass es albern war und wir mehr falsche Hinweise bekommen würden als alles andere, aber ich musste es einfach tun. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie wäre ganz in der Nähe, als wandere ihr Geist noch durch diese Straßen und Häuser. Kevin und ich waren zunächst weiter nur Freunde, bis er eines Tages zu müde war, um nach Hause zu fahren. Allmählich hatte ich das Gefühl, in meinen Körper zurückzukehren, und spürte, dass die Tränen allmählich trockneten.
Die Katze blieb genauso verschwunden wie meine Tochter. In den Tagen direkt nach dem Feuer waren ständig so viele Menschen in meinem Haus gewesen, hatten so viele fremde Stimmen und Gerüche mitgebracht, dass sie geflüchtet war. Ich ließ die Kiste wochenlang draußen stehen, aber sie kehrte nicht zurück.
Tammy und ich telefonierten ein paarmal miteinander. Sie hatte ihren Mann verlassen und trauerte um ihre Schwester und Eltern. Sie würde lange brauchen, um darüber hinwegzukommen, aber sie war stark und schmiedete bereits Pläne für die Zukunft.
Schließlich fand man auch Willows sterbliche Überreste. Ich stellte mir vor, wie das Fass aus dem Boden geholt wurde, verrostet und mit Erdklumpen bedeckt, und wie ihre Gebeine endlich aus ihrem Gefängnis befreit wurden. Es fiel mir schwer, an sie zu denken, ohne mich zugleich daran zu erinnern, wie Aaron mich begraben hatte. Ich dachte an das Geräusch der Schaufel, die sich in die Erde gräbt, an das Klappern des Mutterbodens auf dem Metall, an die Luft, die immer knapper wurde, und wusste, dass Willow dasselbe durchgemacht hatte. Aber sie hatte es nicht überlebt. Ob Aaron damals gemerkt hatte, dass es ihm gefiel, Frauen zu begraben und sie schreien zu hören? Oder hatte es vor uns noch andere gegeben? Willow hatte keine Familie, so dass Robbie und ich ihr eine Grabstelle auf demselben Friedhof besorgten, auf dem auch Paul lag. Als die Polizei ihre sterblichen Überreste freigab, hielten wir eine kleine Trauerfeier für sie ab.
Auf ihrem Grab pflanzten wir Lavendel.
Mitte Mai, etwa einen Monat nach dem Feuer, spürte ich erneut, dass jemand mein Haus beobachtete. Zuerst war da nur ein leichtes Unbehagen. Wenn ich draußen war, um den Mülleimer auszuleeren oder den Kompost wegzubringen, hatte
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