Blick in Die Angst
es nicht da ist.
Durch meine Tränen und den Regen war das Krankenhaus nur noch ein grauer Fleck. Ich überlegte, in welchem Zimmer mein Bruder lag, dachte daran, wie friedlich er gewirkt hatte, als er von dem Moment gesprochen hatte, als er beinahe gestorben wäre. Dann dachte ich an Paul, an die letzten Augenblicke, ehe er seinen letzten Atemzug getan und in meinen Armen gestorben war, wie heiter er ausgesehen hatte, als er mich losgelassen hatte. Ich begriff, dass ich diejenige war, die nie richtig losgelassen hatte.
Den Abend verbrachte ich mit Grübeleien über mein Leben – und darüber, dass es ebenfalls beinahe zu Ende gewesen wäre. Dann traf ich ein paar Entscheidungen. Am nächsten Tag fuhr ich früh los, um Robbie zu besuchen, und nachdem er wieder eingeschlafen war, ging ich hoch zu Kevins Büro.
Auf mein Klopfen hin rief er: »Herein.«
Ich zögerte. Würde er noch irgendetwas mit mir zu tun haben wollen, nachdem ich so unnahbar gewesen war? Ich würde es niemals wissen, wenn ich es nicht ausprobierte. Ich holte tief Luft und öffnete die Tür.
Er schaute überrascht auf und machte Anstalten aufzustehen. »Nadine …«
Ich bedeutete ihm, sitzen zu bleiben, und setzte mich in den Sessel vor ihn.
Als ich ihn ansah, fiel mir auf, wie gut er aussah, wenn er sich das Haar mit einer Hand zurückstrich und die Muskeln am Unterarm hervortraten. Ich sagte: »Ich muss mich bei dir entschuldigen.«
Er legte den Kopf schräg, ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. »Hast du das auch schon gemerkt?«
»Ich bin manchmal etwas langsam.« Ich trat an den Abgrund meiner Gefühle, blieb einen Moment schwankend stehen und sprang. »Du hast recht. Ich laufe davon. Vermutlich habe ich Angst … vor dem, was es bedeuten könnte.«
»Ich habe auch Angst. Aber das ist gut. Mir gefällt deine Art, Gefühle in mir zu wecken.«
Wir blickten uns erneut an, direkt unter meinem Herzen setzte ein nervöses Pochen ein. Doch es gab da etwas, das ich klarstellen musste.
»Meine Tochter, Lisa, ist immer noch in der Kommune, und sie hat im Moment oberste Priorität – jetzt und immer.«
Er nickte. »Natürlich.«
»Unter dieser Voraussetzung, und wenn du Lust hast, Zeit mit mir zu verbringen, könnte ich einen Freund gebrauchen.«
Er hob die Brauen. »Einen Freund?«
»Einen vertrauten Freund. Ich würde gerne ausprobieren, wohin uns das führt.« Ich hob ebenfalls die Brauen und registrierte erfreut sein Antwortlächeln. »Können wir damit anfangen, dass wir endlich zusammen essen gehen?«
»Gerne.«
»Vielleicht könnte ich auch in deiner Band vorspielen. Ich spiele ganz gut Tamburin.«
»Na, jetzt übertreib mal nicht.«
Wir lachten beide, dann griff er über den Schreibtisch hinweg nach meiner Hand.
Dieses Mal tauchten keine Bilder vor meinem geistigen Auge auf, keine Schuldgefühle gegenüber Paul. Doch ich erinnerte mich, wie Paul, als er noch lebte, immer versucht hatte, Momente wie diesen zu schaffen, kurz meine Hand ergriff, wenn ich in der Tierklinik an ihm vorbeieilte. Doch ich hatte mich ihm oft entzogen, ganz auf meine Arbeit konzentriert.
Der Tod lässt uns wünschen, alles anders gemacht zu haben, und sei es nur, sich mehr Zeit gelassen zu haben. Dieses Mal würde ich den Weg genießen.
Das Leben ist für die Lebenden.
37. Kapitel
Ich war gerade vom Krankenhaus nach Hause gekommen und schloss meine Tür auf, als ein Streifenwagen auf meine Auffahrt bog. Ein hochgewachsener Mann mit grauem Haar, dunklen Brauen und tiefen Falten im Gesicht, die ihn müde wirken ließen, stieg aus und stellte sich als Sergeant Pallan vor. Dann erklärte er mir, dass er die Ermittlungen gegen die Kommune leite. Seine Augen blickten ernst und traurig, als er die Sonnenbrille abnahm. Ich suchte sein Gesicht ab und atmete unwillkürlich schneller. Meine Brust wurde eng, als ich spürte, dass er nicht hier war, um mir Fragen zu stellen.
»Was ist passiert?«
»Wir müssen reden, und dazu sollten wir besser hineingehen.«
Das war schlecht. Was immer er mir erzählen würde, es würde richtig schlimm sein. Ich nahm die Welt nur noch verzerrt wahr. Mein räumlicher Sinn war wie ausgeschaltet, und ich stolperte über die Türschwelle, als ich den Sergeant ins Haus führte. Bitte, lass es nichts mit Lisa sein. Lass sie nicht tot sein.
Ich ging zum Küchentisch, zog einen Stuhl hervor und ließ mich darauffallen. Ich setzte die Ellenbogen auf die Tischplatte und presste den Mund gegen meine Fäuste, drückte die
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