Blick in Die Angst
Lippen dagegen und versuchte, den Schrei zu unterdrücken, der in meiner Kehle aufstieg. Ich merkte, dass meine Beine und Hände zitterten, aber ich nahm es nur am Rande wahr, wie ein Arzt, der meinen Zustand einschätzte. Schock, Sie erleiden gerade einen Schock. Ich war bereits eine Fremde für mich.
Ich suchte nach Worten, zwang mich, sie auszusprechen. »Was ist passiert?«
»Heute Morgen ist in der Kommune ein Feuer ausgebrochen, und …«
»Meine Tochter?«
»Wir wissen nicht …«
Ich stöhnte in meine Hände, ein tiefes, klagendes Geräusch. Die Schockreaktion hüllte meinen Körper ein wie ein Kokon, alles schien sich zu verlangsamen.
Der Officer fragte: »Soll ich jemanden für Sie anrufen?«
»Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
»Vielleicht wäre es besser, wenn Sie eine Freundin …«
»Sagen Sie es mir!« Ich spie die Worte aus, Zorn und Tränen vermischten sich auf meinem Gesicht.
Also erzählte er.
Es gab nur eine Handvoll Überlebende. Zwei Mitglieder waren durch ein zerbrochenes Fenster entkommen – eine Frau lag mit einer Schussverletzung im Krankenhaus, ein Mann hatte Verbrennungen dritten Grades erlitten. Der Mann, der sich um das Grundstück kümmerte, hatte am anderen Ende des Anwesens den Rasen gemäht, so dass er ebenfalls davongekommen war. Eine weitere Überlebende war gerade von einem Ausritt zurückgekommen und noch ziemlich weit weg gewesen, als Joseph angekommen war. Sie war zum Stall weitergeritten und hatte begonnen, ihr Pferd abzusatteln. Eine Weile war alles ruhig, dann ertönten Gewehrschüsse. Aus lauter Angst hatte sich die Frau in einem der Ställe versteckt, ohne die Möglichkeit zu haben, um Hilfe zu rufen. Voll Entsetzen beobachtete sie das Gebäude, als die Flammen laut fauchend aus den Fenstern schlugen und sich rasch durch die Wandverkleidung fraßen.
Kurz darauf gab es eine Explosion, und alle Gebäude waren von Flammen eingeschlossen. Die Frau ließ alle Tiere frei und versteckte sich auf dem Feld, bis Polizei und Feuerwehr eintrafen.
Es dauerte Stunden, bis das Feuer gelöscht war. Mindestes einhundertfünfzig Menschen waren ums Leben gekommen, darunter fünfundzwanzig Kinder. Glücklicherweise hatten zur Zeit keine Workshops oder Retreats stattgefunden, sonst hätte es noch mehr Opfer gegeben.
Die Mitglieder, die getötet worden waren, waren im Meditationsraum eingesperrt gewesen. Man hatte sie hineingetrieben wie eine Schafherde zur Schlachtung. Joy war die Überlebende, auf die geschossen worden war. Sie hatte Joseph geholfen, die anderen zusammenzutrommeln, doch als Joseph ihr die Schlüssel wegnahm, die Menschen einsperrte und sagte, er bräuchte Benzin, begriff sie, dass etwas nicht stimmte. Sie versuchte, ihn aufzuhalten, aber er schoss auf sie und ließ sie verletzt liegen. Sie kroch in ihr Büro und schaffte es mit knapper Not aus dem Fenster, bevor das Feuer einen Lagerraum mit Chemikalien erreichte und alles in die Luft flog.
Die Polizei wusste nicht, was mit Joseph geschehen war und ob er noch auf freiem Fuß war. Es würde Monate dauern, die Leichen zu identifizieren. Joy hatte eine Liste aller Mitglieder erstellt, von denen sie mit Sicherheit wusste, dass sie im Meditationsraum gewesen waren, aber Lisa war nicht darunter. Joy konnte sich nicht erinnern, sie an diesem Morgen gesehen zu haben oder überhaupt in den letzten beiden Tagen, ebenso wenig wie die anderen Überlebenden. Sie war verschwunden.
Ich starrte den Officer an, sah, wie sein Mund sich bewegte, als er mir erklärte, dass ich Unterstützung beantragen könnte, doch nichts davon erreichte mich.
Ich legte den Kopf auf den Tisch und weinte.
Die Tage nach dem Feuer verschwammen in einem Nebel aus durcheinandergewürfelten Bildern und Erinnerungen. Einmal stand ich in der Küche, starrte auf meine Hand, die den seifigen Schwamm umklammert hielt, und versuchte zu begreifen. Wie konnte Joseph all diese Menschen töten? Wie konnte ich Geschirr spülen und Wäsche waschen, wenn meine Tochter immer noch vermisst wurde? Ich wusste, dass die Psyche uns in unserer Trauer vor dem Schlimmsten bewahrt und den Schmerz nur in kleinen Dosen austeilt, aber ich weiß noch, wie ich dachte: Nein, schlimmer kann es nicht werden, es kann unmöglich noch mehr weh tun . Doch es konnte, und es tat es.
An den meisten Tagen schlich ich durch mein Haus, fühlte mich am ganzen Körper geschunden und zerschlagen und scheiterte an den einfachsten Aufgaben. Ich teilte alles in kleinste Einheiten auf:
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