Blick in Die Angst
machte jedoch nicht den Eindruck, als wolle sie sich demnächst zur Ruhe setzen – oft kam sie auch an ihren freien Tagen vorbei. Die Mitarbeiter respektierten sie wegen ihrer Fairness und wegen ihrer pragmatischen Einstellung, aber ihr entging nicht viel.
»Kommen Sie gut zurecht? Sie wirkten heute etwas abgelenkt.«
»Tut mir leid. Ich habe letzte Nacht nicht gut geschlafen.«
Elaine musterte mich aufmerksam. »Sie sehen in letzter Zeit öfter müde aus. Einen Patienten zu verlieren ist immer traumatisch, und falls Sie ein paar Tage frei brauchen …«
»Danke, aber mir geht es gut.«
»Okay. Meine Tür steht offen, wann immer Sie reden müssen.«
Trotz meiner Antwort hatte ich das Gefühl, sie würde mich genau beobachten, und sie tat recht daran, sich Sorgen zu machen. Ich war in letzter Zeit abgelenkt und müde bei der Arbeit.
Ein paarmal war ich nachts aufgewacht, überzeugt, ich hätte draußen das tiefe Brummen eines langsamer werdenden Autos gehört. Eines Nachts stand ich sogar auf und spähte durch die vorderen Jalousien. Als ich die Außenbeleuchtung einschaltete, brauste ein grüner Truck davon. Zweimal war ich mir sicher gewesen, beobachtet zu werden, als ich von der Arbeit nach Hause kam und aus dem Auto stieg. Doch als ich mich umschaute, hatte ich nie jemanden gesehen.
Es war jedoch nicht nur mein Privatleben, das mich bedrückte. Francine, meiner dementen Patientin, ging es auf der Station nicht gut. Sie weigerte sich, etwas zu essen, und versuchte jeden Tag, wegzulaufen. Dann wurde sie auch noch gewalttätig, biss und trat um sich und musste sediert werden. Manchmal kam ich in ihr Zimmer, und sie starrte mit leerem Blick aus dem Fenster, wie ein gefangener Vogel.
Außerdem hatten wir einen jungen Mann aufgenommen, der versucht hatte, sich zu erhängen, nachdem er innerhalb einer Woche Job und Freundin verloren hatte. Junge Männer kamen mit Depressionen besonders schwer zurecht, da ihnen häufiger als Frauen die emotionalen Fertigkeiten fehlten, sich damit auseinanderzusetzen. Brandon tat sich unglaublich schwer und hatte keine Idee, was er mit seinem Leben anfangen sollte, wenn er entlassen wurde.
»Sie haben unzählige Möglichkeiten, Brandon«, sagte ich während einer Sitzung zu ihm. »Das hier ist nur ein kleiner Schlenker auf Ihrem Lebensweg.« Wir sprachen über Arbeitsmöglichkeiten und wo er Hilfe für seine Jobsuche bekommen könnte. Wenn ich mit Brandon sprach, dachte ich oft an Heather. Ihr Geist wehte noch immer durch die Gänge des Krankenhauses und lächelte mich mit Brandons blauen Augen an. Ich verbrachte mehr Zeit als üblich mit ihm, in der Hoffnung, eine weitere Tragödie zu verhindern.
Am Donnerstag kam Garret vorbei. Sein Grinsen zu sehen, als ich ihm das Werkzeug seines Vaters übergab, bestätigte mich darin, dass er es haben sollte. Er blieb auf einen Kaffee, und wir schwelgten in Erinnerungen. Ich fühlte mich gerührt, als er sagte: »Es tut mir leid, dass ich als Kind so eine Rotzgöre war.« Als er sagte: »Du solltest mir mal Modell stehen«, lachte ich und freute mich über den Mann, zu dem er herangewachsen war. Er zeigte mir seine neuen Visitenkarten, und es war offensichtlich, dass er sich mit seiner Firma große Mühe gab. Wir sprachen auch wieder über Lisa. Es tat gut, mit jemandem über meine zerschlagenen Hoffnungen und Träume zu sprechen, der sich ebenfalls um sie sorgte. Ich erzählte ihm von unserem zufälligen Zusammentreffen unten am Kai.
Seine Besorgnis stand ihm ins Gesicht geschrieben, doch er sagte nur: »Vielleicht ist es besser, sie in Ruhe zu lassen. Wahrscheinlich wird sie eines Tages ihren eigenen Weg finden. Ich hab’s schließlich auch geschafft, oder?«
Er lächelte und erinnerte mich dabei so sehr an seinen Vater, dass ich einfach zurücklächeln musste.
Freitag meldete sich die Polizei aus Shawnigan Lake – sie hatten mit Aaron gesprochen. Ich stand da, die Hand immer noch auf einem Stapel Kleidung, den ich gerade wegräumen wollte, und lauschte den Neuigkeiten, während mein Herz laut in den Ohren pochte. Instinktiv wusste ich bereits, dass es keine guten Neuigkeiten sein würden. Meine Ahnung wurde kurz darauf bestätigt, als Corporal Cruikshank mir erzählte, dass Aaron alles abgestritten und sich zudem geweigert hatte, einen Lügendetektortest machen zu lassen. Zwingen konnten sie ihn dazu nicht. Sie erklärte mir, dass der Fall zu den Akten gelegt werden würde, solange es keine weiteren Erkenntnisse gäbe.
Mit
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