Blick in Die Angst
du mal einen Platz zum Pennen brauchst.« Ich war angewidert von meinen verzweifelten Versuchen, irgendwie an sie heranzukommen.
»Es geht mir gut. Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen.«
Ich lachte, ein Versuch, die Spannung zu mildern. »Es ist schwer für eine Mutter, sich keine Sorgen um ihr Kind zu machen, selbst wenn das Kind erwachsen ist und seine eigenen Entscheidungen trifft.« Sie lächelte nicht. Ich änderte meinen Tonfall. »Aber ich höre gerne, dass es dir gutgeht.«
Sie schob ihr Kinn zurück und sah mich aus diesen großen, offenen Augen an, die mich so oft angelogen hatten. »Ich bin seit ein paar Wochen clean.«
Ich war Psychiaterin, dazu ausgebildet, das Richtige zum richtigen Zeitpunkt zu sagen, doch jetzt hatte ich nur eine einzige Sorge, nämlich auf keinen Fall das Schlimmste von allem zu tun: zu sehr zu ermutigen und damit zu riskieren, bevormundend zu klingen; die falschen Fragen zu stellen und zu riskieren, sie zu verärgern; nicht genug zu sagen und zu riskieren, gleichgültig zu wirken.
Ich entschied mich für: »Das ist großartig. Machst du eine Therapie?« Der zweite Satz war draußen, ehe ich daran dachte, was für ein wunder Punkt das für sie war, wie sehr sie die Entzugsklinik gehasst hatte, in die ich sie als Jugendliche geschickt hatte. Sie rief mich weinend an, aber ich weigerte mich, sie abzuholen, und sagte, sie sei eine Verpflichtung eingegangen. Sie lief davon. Garret und ich fanden sie an einer Tramperstelle, als sie gerade zu drei Männern in einen Truck steigen wollte. Wie gelähmt saß ich im Wagen, entsetzt bei der Vorstellung, was ihr hätte zustoßen können. Ich wollte sie für den Rest ihres Lebens einsperren und wusste doch, dass alles, was ich sagte, es nur noch schlimmer machen würde. Garret stieg aus und redete mit ihr, bis sie endlich zu uns ins Auto stieg. Sie sprach wochenlang nicht mit mir, teilte mir lediglich mit, dass sie aufgehört habe, Drogen zu nehmen, nur um einen Monat später erneut damit anzufangen.
»Ich brauche keine Therapie . Ich schaffe es allein.«
»Ich bin stolz auf dich – das erfordert eine Menge Disziplin.« Und funktioniert selten. »Wenn du dich jemals behandeln lassen möchtest …« Ich sah, wie sie die Zähne zusammenbiss, und fügte hastig hinzu: »Natürlich nur ambulant, dann kannst du mich fragen. Ich komme gerne für die Kosten auf.«
Sie stand auf. »Du kannst es einfach nicht lassen, was? Du glaubst, du wärst so hilfsbereit – dabei hilfst du überhaupt nicht .« Mit diesen Worten schnappte sie sich ihren Rucksack und stürmte davon. Ich blieb noch lange am Kai stehen. Mein Gesicht brannte vor Verlegenheit, die Augen vor Tränen, und mein Herz war schwer vor Reue.
Ich schaute hinunter zu der Robbe. Sie drehte sich um und tauchte unter. Nur das Kräuseln des Wassers verriet, dass sie jemals hier gewesen war.
20. Kapitel
Den restlichen Nachmittag verbrachte ich in der Nähe meines Hauses, hantierte im Garten herum und leckte meine Wunden. Die Worte meiner Tochter – und auch die meines Bruders – hatten gesessen. Ich musste zugeben, dass in dem, was sie gesagt hatten, einiges Wahre steckte. Ich hatte schon immer den Drang verspürt, alles und jeden, der mir über den Weg lief, wieder heil zu machen – genau dieser Drang hatte mich Psychiaterin werden lassen. Ich hatte aus diesem Wesenszug eine Kunst gemacht und gelernt, dass man den Menschen nur das Werkzeug in die Hand geben kann. Die Arbeit müssen sie allein erledigen. Doch es war um einiges schwerer, in der Rolle der mitfühlenden Beobachterin zu bleiben, wenn es um meine eigene Familie ging.
Das erinnerte mich an Garret, wie frustriert er als Kind gewesen war, weil seine Eltern sich getrennt hatten, und wie angestrengt ich mich bemüht hatte, an ihn heranzukommen. Als Paul und ich zusammenzogen, stritt Garret sich oft mit mir, einmal schlug er mich sogar – und sagte, er würde mich hassen. Das war einer der Gründe, warum es mir so viel bedeutete, dass er mich am Ende doch in seinem Leben akzeptierte. Mir fiel ein, dass ich ihm die Werkzeuge seines Vaters geben wollte, und rief ihn an. Ich hatte ganz vergessen, wie ähnlich seine und Pauls Stimme klangen, und als er sich am Telefon meldete, blieben mir die Worte in einem plötzlichen Anflug von Trauer im Halse stecken.
»Hallo?«, wiederholte Garret.
Ich riss mich zusammen. »Garret, hier ist Nadine.«
»Wie abgefahren ist das denn. Ich hatte gerade diese Woche gedacht, dass wir uns
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