Blick in Die Angst
unbedingt mal wieder treffen müssen.« Er lachte leise, und das herzliche Geräusch, heller als Pauls tiefes Lachen, entspannte mich und half mir, die beiden auseinanderzuhalten. Direkt nach Pauls Tod war es noch schwerer gewesen – sie sahen sich so ähnlich, beide waren blond und hellhäutig. Doch Garret hatte die zierlichen Künstlerhände seiner Mutter, während Pauls schon beinahe Pranken glichen, auch wenn er damit ganz behutsam ein Skalpell oder ein Kätzchen halten konnte. Garret wäre gern Tierarzt geworden wie sein Vater, doch nachdem er einmal heftig gebissen worden war, machte ihn die Nähe von Tieren nervös. Stattdessen hatte er eine Kamera in die Hand genommen und war ein sehr guter Fotograf geworden.
Ich erzählte ihm, dass ich noch die Werkzeuge seines Vaters hatte, und fragte ihn, ob er sie gerne hätte.
»Das wäre klasse. Ich habe mir gerade ein Haus gekauft und baue mir ein Studio ein.«
»Du hast dir ein Haus gekauft? Klingt prima. Und mit der Fotografie läuft es gut?«
»Ja, das entwickelt sich großartig. Ich muss schon fast den Telefonhörer daneben legen.«
»Das ist ja wunderbar. Ich freue mich für dich – du hast einfach ein Auge für gute Motive.«
»Danke! Du solltest mal vorbeikommen und dir mein Studio ansehen.«
»Gerne.«
»Wie geht’s Lisa? Hast du irgendetwas von ihr gehört?«
Ich zögerte und überlegte, was ich darauf antworten sollte. Es war dasselbe Gefühl, das ich immer hatte, wenn mich jemand nach meiner Tochter fragte: Trauer, aber auch Scham über mein eigenes Scheitern.
Ich merkte, dass Garret immer noch auf eine Antwort wartete. »Sie lebt immer noch auf der Straße, irgendwo in Victoria.«
»Glaubst du, dass sie immer noch Drogen nimmt?«
Ein Teil von mir wollte meine Tochter hastig verteidigen, gegen die Besorgnis in seiner Stimme, doch auch gegen die leise Andeutung eines Vorwurfs – den ich, wenn ich ehrlich war, als Vorwurf gegen mich als ihre Mutter empfand. Wie konntest du das zulassen? Du bist Ärztin und kannst nicht einmal deiner eigenen Tochter helfen?
Ich sagte: »Ich glaube, im Moment nicht, aber ich bin mir nicht sicher.«
»Was für ein Jammer. Das muss echt schwer für dich sein. Ich denke auch oft an sie. Aber du darfst dir nicht die Schuld dafür geben. Sie trifft ihre eigenen Entscheidungen.«
Ich würde nie aufhören, mir die Schuld zu geben, aber es war trotzdem nett von ihm, das zu sagen. Dann wurde mir klar, dass Garret fast die einzige Familie war, die mir geblieben war, und mit Sicherheit die einzige Verbindung zu Paul. Wir redeten noch etwas länger und schmiedeten Pläne, dass er diese Woche irgendwann einmal abends vorbeikommen sollte. Als ich auflegte, war ich froh, dass ich angerufen hatte.
In der nächsten Woche konzentrierte ich mich auf meine Arbeit, obwohl ich weiterhin jeden Abend nach Lisa suchte. Einmal sah ich eine hochgewachsene Frau an der Einmündung einer Gasse, mit dunklem Haar und einer ähnlichen Art, sich zu bewegen, und stellte hastig das Auto ab. Ich rannte die schmale Straße hinunter, nur um eine Prostituierte aufzuscheuchen, die sich mitten auf der Straße einen Schuss setzte. Sie schrie mir Obszönitäten hinterher, während ich mich rasch entschuldigte und die Szene fluchtartig verließ. Eines Abends erhielt ich einen Anruf von einer unbekannten Rufnummer, doch als ich den Hörer abnahm, kam nur das Freizeichen. War das Lisa gewesen? Ich konnte es nur hoffen.
Ein paarmal lief ich Kevin im Krankenhaus über den Weg. Er war stets freundlich und fragte mich, wie es mir ginge. Eines Nachmittags, als wir beide Pause hatten, tranken wir zusammen einen Kaffee. Ich erzählte ihm von meiner Leidenschaft für Gartenarbeit, und er sagte: »Bei mir wächst mehr Unkraut als Gemüse.« Ich versprach, ihm meine Bonsais zu zeigen, und er bot an, mir das Gitarrespielen beizubringen. Amüsiert hörte ich, dass er mit einigen der anderen Ärzte zusammen in einer Band namens »On a Good Note« spielte, und zog ihn wegen der Groupies auf.
»Hey, wir sind ’ne heiße Nummer.« Er lachte. »Zu Weihnachten und im Sommer bringen wir sogar eine eigene Show raus. Die Patienten lieben uns – und nicht nur, wenn sie unter Medikamenteneinfluss stehen.« Ich lachte zusammen mit ihm. Es fühlte sich gut an, für eine Weile von meinen Gedanken abgelenkt zu werden und sich an den schönen Dingen des Lebens zu erfreuen.
Eines Tages nahm mich nach einem Mitarbeitertreffen meine Chefin beiseite. Elaine war Mitte sechzig,
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