Blick in Die Angst
einer Mischung aus Niedergeschlagenheit und Zorn legte ich auf und versuchte, ein wenig Frieden in der Überzeugung zu finden, das Richtige getan zu haben. Doch ich konnte die Angst nicht ausblenden, dass es noch weitere Opfer gab. Genauso wenig konnte ich das Gefühl ignorieren, dass eines Tages, vielleicht schon bald, jemand im River of Life Centre ernstlich Schaden nehmen würde, entweder durch Methoden wie Fasten oder Schlafentzug oder indem sie einem Mitglied verwehrten, sich bei bestimmten Krankheiten medizinisch behandeln zu lassen.
Am Samstag erledigte ich meinen Einkauf und den Hausputz, während meine Gedanken wieder nach Shawnigan wanderten. Der Officer im Ruhestand, Steve Phillips, musste inzwischen aus den Ferien zurück sein, und ich überlegte, ob es sich lohnte, mit ihm zu reden. Er hatte im Fall von Finns Tod ermittelt, bevor die Kommune umzog, und wenn er sich auch nur an eine winzige Kleinigkeit erinnerte … Sie konnten Aaron nicht wegen sexuellen Missbrauchs belangen, aber vielleicht gab es im Zusammenhang mit Finns Tod etwas, das die Polizei veranlassen könnte, sich das Zentrum genauer anzuschauen.
Und dann war da wieder das Bild von Aaron, der etwas hinter dem Stall vergrub, das mir nicht aus dem Kopf ging. Als ich es am Telefon Corporal Cruikshank gegenüber erwähnt hatte, hatte sie versprochen, es zu überprüfen, aber ich war sicher, dass sie das nur gesagt hatte, um mich zu beruhigen. Sie würden nicht den Wald umgraben, nur weil ich mich zu erinnern glaubte, dass Aaron vor vierzig Jahren irgendetwas verscharrt hatte. Aber dieser Officer, Steve Phillips, er hatte Aaron gesehen und mit ihm gesprochen und hatte möglicherweise einen anderen Eindruck von ihm. Denkbar war auch, dass er irgendwann eines der Mitglieder zufällig in der Stadt getroffen hatte, vielleicht sogar Willow.
Denn das war die zweite Sache, die Corporal Cruikshank mir erzählt hatte. Ihnen lag keine Anzeige über ein vermisstes Mädchen mit dem Namen Willow vor. Für den Fall, dass das nicht ihr richtiger Name war, hatten sie überprüft, ob ihre Beschreibung zu anderen vermissten jungen Frauen passte, und hatten trotzdem nichts gefunden. Ich war nicht mehr dazu gekommen, Robbie zu fragen, ob er mehr über Willow wusste, irgendetwas. Ich wusste, dass er sich wundern würde, warum das alles plötzlich so wichtig war. Warum jetzt, nach all den Jahren?
Vordergründig wollte ich mich vergewissern, dass es keine weiteren Opfer gab, aber ich hatte auch das unbehagliche Gefühl, Willow im Stich gelassen zu haben. Ich wusste nicht, ob dieses Gefühl von meinem Streit mit ihr am Fluss herrührte oder weil ich am letzten Tag fort und zu den anderen gegangen war, doch ich fürchtete mich vor den Erinnerungen, die sonst noch blockiert sein könnten. Vielleicht würde ich, indem ich einige dieser Geheimnisse aufdeckte, herausfinden, was mir vor all diesen Jahren zugestoßen war.
Sicherheitshalber schlief ich noch eine Nacht darüber, doch am nächsten Morgen wachte ich mit klarem Kopf und entschlossen auf. Ich würde noch einmal nach Shawnigan fahren. Ich zwang mich zu einem gesunden Frühstück und hielt mich beim Kaffee zurück, um meine bereits vibrierenden Nerven nicht noch mehr zu strapazieren. Auf der Fahrt nach Shawnigan fühlte ich mich ruhig und sicher. Ich würde nur mit dem pensionierten Officer reden, falls er zu Hause war. Ich hatte versucht, ihn über Handy zu erreichen, aber nur seine Mailbox bekommen. Es war überhaupt nichts dabei, ein paar Fragen zu stellen. Zugleich ermahnte ich mich, dass ich, wenn dieser Ausflug immer noch kein Licht ins Dunkel brachte, es akzeptieren und wieder zum Alltag übergehen müsste.
Als ich dieses Mal bei Steve Phillips auf die Auffahrt fuhr, parkte ein blauer Ford-Truck neben dem Wohnmobil, und ein Mann räumte gerade seine Angelausrüstung in die Garage. Als er die Reifen auf seiner Kiesauffahrt hörte, drehte er sich um. Ich stieg aus dem Wagen und ging zu ihm. Er war groß, die Schultern ein wenig gebeugt und die Haare grau, aber er trug immer noch den typischen Bundespolizei-Kurzhaarschnitt und dicken Schnurrbart. Dazu eine Windjacke mit dem RCMP-Logo. Er mochte zwar pensioniert sein, aber er war immer noch durch und durch Polizist.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.
»Das hoffe ich. Mein Name ist Nadine Lavoie, und ich bin in Shawnigan aufgewachsen.«
»Ja …?«
»Vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Ich habe ein paar Fragen zu einem kleinen Jungen, der Ende der
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